Montag, 25. Januar 2016

KGB-Akten bis 2044 gesperrt

Petition für die Freigabe der Akten zurückgewiesen

Sowjetische Geheimdienstakten sollen bis 2044 unter Verschluss bleiben. Dies teilten die russischen Behörden kürzlich dem Vorsitzenden der Juristenvereinigung „Kommando 29“, Iwan Pawlow, mit. Damit bleibt die Verfügung aus dem Jahre 2014 in Kraft.

Iwan Pawlow hatte eine Petition für eine Freigabe der Akten gestartet und über 60.000 Unterschriften gesammelt.

In der Begründung für ihre Entscheidung betont die russische Kommission für den Schutz von Staatsgeheimnissen, Informationen über die Tätigkeit der Staatssicherheitsorgane von 1917 bis 1991 seien nach wie vor aktuell. Ihre Verbreitung gefährde die nationale Sicherheit. Nicht betroffen davon seien hingegen Unterlagen zu Massenrepressionen, darunter Gesetze und andere Rechtsakte, die dem Regime als Grundlage für Verfolgungen gedient hatten. Präsident Jelzin hatte bereits 1992 die Freigabe dieser Akten verfügt.

Iwan Pawlow widerspricht dieser Aussage mit dem Hinweis darauf, dass ein Brief von Jezhow, der den Anstoß für das Verfahren gegen die „Harbiner“ gegeben habe (mit dem Ergebnis, das etwa 20.000 Menschen erschossen wurden), eben mit dem Hinweis auf die Verfügung von 2014 nicht freigegeben worden sei.

Pawlow beabsichtigt, die Entscheidung der Kommission vor Gericht anzufechten.

23. Januar 2016

Samstag, 23. Januar 2016

Vorschlag zur Änderung des "Agentengesetzes"

Justizministerium definiert "politische Tätigkeit"

Im November 2012 trat das berüchtigte „Agentengesetz" in Kraft, demzufolge russische Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und „politisch tätig“ sind, als „ausländische Agenten" registriert und diskriminiert werden.

Wiederholt war kritisiert worden, der Begriff der „politischen Tätigkeit" sei schwammig und zu ungenau, er müsse präziser bestimmt werden. Präsident Putin hatte bereits 2014 eine diesbezügliche Revision angekündigt.

Nunmehr hat das Justizministerium Änderungsvorschläge für den entsprechenden Passus im „Agentengesetz" vorgelegt, die eine genauere Definition enthalten sollen. Es nennt sieben Kennzeichen für "politische Tätigkeit".

 NGOs sind demnach "politisch tätig", wenn sie

- öffentliche Veranstaltungen durchführen – Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Mahnwachen, öffentliche Vorträge und Diskussionen,
- mit ihrer Tätigkeit ein bestimmtes Ergebnis anstreben, etwa bei Wahlen oder Referenden, wenn sie Wahlbeobachtungen durchführen, Wahlkommissionen bilden oder in politischen Parteien mitarbeiten,
- sich in öffentlichen Aufrufen an Staatsorgane, staatliche Angestellte, lokale Behörden wenden oder andere Aktionen durchführen, um sie zu beeinflussen (z. B. im Bereich der Gesetzgebung),
- ihre Auffassungen über politische Entscheidungen der Staatsorgane in den Medien verbreiten,
- die öffentliche Meinung etwa durch die Durchführung und Veröffentlichung von Umfragen oder anderen soziologischen Untersuchungen beeinflussen,
- andere Bürger, darunter Minderjährige, zu dieser Tätigkeit heranziehen,
- diese Tätigkeit finanzieren.

Aktivitäten im Bereich von Wissenschaft, Kultur, Kunst, Gesundheit, Sport, Umwelt sowie im gemeinnützigen und sozialen Bereich gelten nicht als politisch, es sei denn, sie verfolgten Ziele, wie sie im zweiten Punkt genannt sind.

MEMORIAL International hat dazu bereits 2013 eindeutig erklärt, dass das "Agentengesetz" auch durch Korrekturen nicht "akzeptabel" werden kann. Es muss aufgehoben werden. Diese Forderung vertrat auch Ljudmila Alexejewa, die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, auf der Sitzung des Menschenrechtsrats beim Präsidenten in dessen Beisein am 1. Oktober letzten Jahres.

22. Januar 2016

"Komitee zur Verhinderung von Folter" als "ausländischer Agent" registriert

Vor wenigen Tagen wurde das Komitee zur Verhinderung von Folter zum „ausländischen Agenten“ erklärt.

Dieses Komitee ist neben einer Reihe weiterer Organisationen aus dem „Komitee gegen Folter“ hervorgegangen, das sich – eben wegen der Registrierung als „ausländischer Agent“ und den sich daraus ergebenden Konsequenzen – im letzten Jahr aufgelöst hatte.

Das Komitee zur Verhinderung von Folter verfügt über keine ausländische finanzielle Förderung und lebt ausschließlich von Spendengeldern aus Russland. Dennoch hat das Justizministerium nach einer Überprüfung entschieden, es als „Agenten“ zu verzeichnen. Als Begründung dient das Argument, dass seine russischen Spender bei Organisationen arbeiteten, die aus dem Ausland finanziert würden.

„Offenbar hätten wir auch noch überprüfen müssen, wo die Personen arbeiten, die uns Spenden überwiesen haben, und darüber hinaus feststellen, aus welchen Quellen sich ihr Arbeitgeber finanziert“, kommentierte der Leiter des Komitees Igor Kaljapin.

Kaljapin versicherte, dass das Komitee das Etikett des „ausländischen Agenten“ im eigenen Land nie akzeptieren werde. Die Arbeit des Komitees solle in jedem Fall fortgesetzt werden.

17. Januar 2016

Bücherverbrennung in Komi

Von Soros-Stiftungen geförderte Publikationen sollen aus Bibliotheken entfernt werden

Im letzten Jahr sind zwei Organisationen von George Soros – die „Open Society Foundations“ und „OSI Assistance Foundation“ - in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt worden, weil sie entsprechend dem neuen Gesetz die russische Verfassungsordnung gefährden.

Stiftungen von Soros haben in Russland in großem Umfang kulturelle und wissenschaftliche Projekte gefördert, darunter auch zahlreiche Buchpublikationen.

In der Republik Komi sind inzwischen auf höhere Anweisung etliche dieser Publikationen aus mehreren Bibliotheken entfernt worden. Sie wurden ausgetragen und sollen vernichtet bzw. als Altpapier verwertet werden, 53 Bücher aus der Bibliothek einer Berufsschule für Bergbau in Workuta wurden verbrannt.

Die Anordnung kam vom Bevollmächtigten des Präsidenten für Komi. Dessen Stellvertreter Andrej Trawnikow wies in einem Schreiben vom November 2015 darauf hin, dass diese (von Soros-Stiftungen geförderten) Publikationen „bei der Jugend zu einer verzerrten Wahrnehmung der vaterländischen Geschichte führen“ und Vorstellungen vermitteln, die „der russischen Ideologie fremd“ seien. Daher seien sie unbedingt aus den Bibliotheken zu entfernen.

Der russische Kulturminister Wladimir Medinskij betonte inzwischen, eine Bücherverbrennung "sieht so schlecht aus und weckt so befremdliche historische Assoziationen, dass das meiner Auffassung nach absolut unzulässig ist". Er sagte eine Überprüfung dieser Berichte zu.

16. Januar 2016

Urteil in Strasbourg zum staatlichen Vorgehen auf dem Bolotnaja-Platz

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte gibt russischem Kläger Recht

Das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg hat am 5. Januar der Klage von Jewgenij Frumkin stattgegeben. Frumkin, der der Partei „Demokratische Union“ angehört, hatte gegen das Vorgehen der russischen Behörden im Zusammenhang mit der Kundgebung am Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 (gegen Fälschungen bei den vorangegangenen Parlaments- und Präsidentenwahlen) geklagt.

Es ging um einen Demonstrationszug mit einer Abschlusskundgebung. Frumkin hatte nur an letzterer teilnehmen wollen, war jedoch festgenommen und zunächst für zwei Tage (bis 8. Mai) in Haft gehalten worden. Danach wurde er zu 15 Tagen Haft als Ordnungsstrafe (nach Art. 19.3 Verwaltungsstrafrecht) verurteilt.

Dieses Urteil hatte Frumkin vergeblich bei höheren russischen Instanzen angefochten und schließlich am 9. November 2012 auch beim EGMR. Dort liegen etliche weitere Klagen im Zusammenhang mit den Bolotnaja-Verfahren vor von Demonstranten, die ebenfalls mit Ordnungsstrafen (einschließlich Haft) belegt wurden sowie von Personen, die strafrechtlich verurteilt wurden.

Laut Urteil des EGMR wurden im Falle von Frumkin mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt: das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5), das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6) sowie das Recht zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11).

Das Gericht hat die Vorgänge im Zusammenhang mit dem 6. Mai 2012 – auch die Vorgeschichte - im Detail untersucht. Geplant war eine Demonstration mit einer Abschlusskundgebung auf dem Bolotnaja-Platz. Beides war genehmigt, die Schlusskundgebung kam jedoch nicht mehr zustande. Anders als vorgesehen und abgesprochen sperrten die Behörden einen Teil des Bolotnaja-Platzes – die Grünanlage – ab. In der Folge kam es zu Gedränge, an einigen Stellen wurde die Polizeiabsperrung zeitweise durchbrochen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen.

Nach Auffassung des Gerichts haben die Behörden nichts unternommen, um den entstehenden Konflikt zu deeskalieren, sie hielten keinerlei Kontakt mit den Organisatoren der Kundgebung, um mögliche Übergriffe zu verhindern. Dadurch sind sie ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, die friedliche Durchführung der Aktion zu gewährleisten.

Jevgnij Frumkin habe sich auf einem Gebiet befunden, das für die Kundgebung reserviert worden war und keinerlei Gewalt angewandt. Die Sanktionen gegen ihn trügen einen abschreckenden Charakter, mit dem offensichtlichen Ziel, den Kläger und andere Personen von weiteren Protestkundgebungen und oppositionellen Aktivitäten abzuhalten. Weder hätten die Behörden ein gesetzwidriges Verhalten Frumkins bewiesen noch hätten sie überhaupt eine Begründung dafür abgegeben, dass er 36 Stunden in Polizeigewahrsam gehalten wurde. Bei seiner Verurteilung zu 15 Tagen Haft habe die Schuldfrage gar keine Rolle gespielt.

Das EGMR sprach Frumkin eine Zahlung von 25.000 Euro zu. Darüber hinaus muss der russische Staat die Verfahrenskosten übernehmen (7.000 Euro).

Insgesamt sind im „Bolotnaja-Verfahren“ bisher 19 Personen zu Haftstrafen verurteilt worden. Einige haben ihre Haftzeit bereits verbüßt. 13 weitere Personen waren im Rahmen einer Amnestie Ende 2013 freigekommen. Ende 2015 wurde Dmitrij Butschenkow verhaftet, der indes behauptet, am 6. Mai nicht auf dem Bolotnaja-Platz gewesen zu sein. Die bisher letzte Verurteilung erfolgte am 22.12.2015. An diesem Tag wurde Iwan Nepomnjaschtschich nach 22 Monaten Hausarrest zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

13. Januar 2016

MEMORIAL Rjasan "Organisation des Jahres"

Die regionale Ausgabe der „Novaja gazeta“ hat MEMORIAL Rjasan zur „Gesellschaftlichen Organisation des Jahres“ erklärt. Journalisten und eine Expertengruppe aus Lesern der Zeitung hatten eine Kandidatenliste für diese Nominierung erstellt. Aus dieser Liste konnten die Leser eine Organisation auswählen. Ihre Entscheidung fiel zugunsten von MEMORIAL Rjasan.


Die „Novaja gazeta“ hält dazu fest:
MEMORIAL Rjasan „hat sich in diesem Jahr für die Schaffung von Wohnraum für Waisen und für Barrierefreiheit für Gehbehinderte eingesetzt. Es hat die Aktion „Rückgabe der Namen“ zum Gedenken an politisch Verfolgte fortgeführt. Die Bedeutung von MEMORIAL für das öffentliche Leben der Region kann nicht hoch genug eingeschätzt werdenhttp://novgaz-rzn.ru/nomer28122015_52/2464.html.“ 

15. Januar 2016

Menschenrechtszentrum MEMORIAL wendet sich an Generalstaatsanwalt Tschajka

Staatsanwaltschaft soll mögliche Verletzung der Verfassung und Überschreitung ihrer Vollmachten durch Beamte des Justizministeriums untersuchen

Nach einer planmäßigen Überprüfung im Oktober hatte das Justizministerium das Menschenrechtszentrum MEMORIAL beschuldigt, "die Grundlagen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Russischen Föderation zu untergraben" und zum "Sturz der amtierenden Regierung sowie zu einer Änderung des politischen Regimes im Lande aufzurufen".

Begründet wird dies u. a. mit kritischen Stellungnahmen der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL (also nicht des Menschenrechtszentrums) zur russischen Haltung gegenüber der Ukraine und zum Bolotnaja-Verfahren gegen Teilnehmer an der Demonstration vom 6. Mai 2012. Außerdem wird auf das Projekt "Verteidigung der Menschenrechte" verwiesen, das vorsieht, im Internet über die Tätigkeit des Menschenrechtszentrums MEMORIAL zu informieren. Darüber hinaus sollen Dokumente, die das Menschenrechtszentrum im Laufe seiner 15jährigen Arbeit im Nordkaukasus zusammengestellt hat, systematisiert, digitalisiert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Da die Beschuldigungen des Justizministeriums jeder Grundlage entbehren, hat sich  der Vorsitzende des Rats der Organisation, Alexander Tscherkassow, am 28. Dezember an die Generalstaatsanwaltschaft gewandt. Er wies darauf hin, dass Beamte des russischen Justizministeriums "ihre Kompetenzen und dienstlichen Vollmachten überschritten und gegen die Verfassung verstoßen" hätten.

"Amtspersonen staatlicher Organe sind nicht berechtigt, bei Ausübung ihrer Befugnisse das Grundgesetz des Landes zu verletzen und ihre dienstlichen Vollmachten zu nutzen, um Mitglieder gesellschaftlicher Organisationen zu diskreditieren, die im Rahmen der russischen Verfassung tätig sind… Die Tätigkeit des Menschenrechtszentrums MEMORIAL, wie im Überprüfungsakt beschrieben, steht vollkommen im Einklang mit … den Bestimmungen der russischen Verfassung. Wenn unsere Organisation auf Verstöße und Mängel hinweist und die legislativen, exekutiven und judikativen staatlichen Organe kritisiert, ist das nicht nur gesetzeskonform, sondern leistet einen Beitrag zur demokratischen Entwicklung des Landes."

Tscherkassow fordert die Generalstaatsanwaltschaft auf, zu überprüfen, inwieweit das Vorgehen der Beamten des Justiziministeriums gesetzeskonform war, und je nach dem Ergebnis mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren.

30.12.2015

Proteste gegen die Verurteilung von Ildar Dadin

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL fordert unverzügliche Freilassung

Die Verurteilung von Ildar Dadin zu drei Jahren Haft hat etliche Proteste ausgelöst. Es kam zu Kundgebungen, vor allem Einzelmahnwachen, in mehreren Städten, darunter St. Petersburg und Jekaterinburg.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL forderte in der nachstehenden Erklärung Dadins unverzügliche Freilassung sowie die Abschaffung des Artikels 212.1, nach dem er verurteilt wurde:

"Am 7. Dezember hat Natalija Dudar, Richterin des Basmannyj-Gerichts Moskau, das erste Urteil nach Art. 212.1 StGB RF gefällt (wiederholter Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen). Sie hat Ildar Dadin schuldig gesprochen und ihn zu drei Jahren Freiheitsentzug in einer Kolonie gewöhnlichen Regimes verurteilt.

Dieses Urteil ist eine besonders zynische Attacke gegen Bürgerrechte und Freiheiten, eine Beleidigung gegen die Idee der Rechtssprechung, selbst wenn man es mit anderen politisch motivierten und in unseren Augen ungesetzlichen Urteilen vergleicht. Zwei der vier Vorfälle, die Dadin zur Last gelegt werden, waren Einzelmahnwachen, die nicht einmal gegen die „drakonische“ Gesetzgebung der Russischen Föderation über öffentliche Veranstaltungen verstoßen. Ein weiterer Vorfall hatte überhaupt nichts mit einer solchen Aktion zu tun.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat den Artikel 212.1 StGB der RF bereits kritisiert. Er soll ganz offensichtlich dem Zweck politischer Verfolgungen dienen. Er ist verfassungswidrig und unrechtmäßig, da er

- die wiederholte Bestrafung für ein und denselben Rechtsverstoß vorsieht;

- das Vorliegen eines Straftatbestandes davon abhängig macht, dass die Person ordnungsrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde und sie damit der Garantien beraubt, die in der Strafprozessordnung festgeschrieben sind;

- das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz verletzt, indem er eine wiederholte Ordnungswidrigkeit, die die Persönlichkeit des Delinquenten charakterisiert, zum einzigen qualifizierenden Merkmal für die Begehung einer Straftat macht;

- eine Verantwortung festschreibt, die offensichtlich nicht dem anzunehmenden Gefährlichkeitsgrad für die Gesellschaft entspricht;

- entgegen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Russischen Föderation und der Haltung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ohne hinreichenden Grund die Freiheit friedlicher Versammlungen einschränkt.

Beim Prozess war es bezeichnenderweise gerade Ildar Dadin selbst, und nicht die Anklagevertretung und das Gericht, der eine Position vertrat, die auf der Verfassung der Russischen Föderation basiert, indem er an die Rechte und Freiheiten der Bürger appellierte.

Wer nach Art. 212.1 StGB zur Verantwortung gezogen wird, ist für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL jemand, der ungesetzlich und aus politischen Gründen verfolgt wird. Jeder, der auf dieser Grundlage der Freiheit beraubt wird, ist ein politischer Gefangener.

Wir fordern die unverzügliche Einstellung des Verfahrens gegen Ildar Dadin, seine bedingungslose Freilassung und die Streichung des Artikels 212.1 aus dem russischen Strafgesetzbuch."

9. Dezember 2015

Skandalöses Urteil in Moskau

Ildar Dadin zu drei Jahren Haft verurteilt


Das Moskauer "Basmannyj"-Bezirksgericht hat am heutigen 7. Dezember Ildar Dadin zu drei Jahren Straflager verurteilt.

Dadin ist der erste, die nach Artikel 212.1 verurteilt wurde, einem neuen Artikel des Strafgesetzbuchs, der 2014 eingeführt wurde. Er sieht für "mehrfachen Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen" hohe Geldstrafen, verschiedene weitere Sanktionen bis zu einer Haftstrafe von bis zu fünf Jahren vor.

Ildar Dadin saß seit Anfang Februar im Hausarrest, nachdem ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Zur Last gelegt wurden ihm vier Protestaktionen (vom 6. und 23. August, 13. September und 5. Dezember 2014). Artikel 212 kann Anwendung finden, wenn eine Person innerhalb von 180 Tagen mehr als zweimal wegen Verstößen bei Versammlungen administrativ belangt wurde.

Der Staatsanwalt hatte ursprünglich zwei Jahre Freiheitsentzug gefordert. Die Richterin, Natalja Dudar, ging jedoch über diesen Antrag hinaus und verurteilte Dadin zu drei Jahren Lagerhaft in gewöhnlichem Regime. Das Urteil stieß auf heftige Proteste, Anwesende gaben ihrer Empörung lautstark Ausdruck und riefen wiederholt "Schande" und "Faschisten".

Dadin selbst hatte betont, er sei bereit, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Er wurde unmittelbar nach der Urteilsverkündung in Haft genommen.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL rechnet Ildar Dadin wie auch Vladimir Ionov und Mark Galperin (denen derselbe Artikel zur Last gelegt wird) zu politisch Verfolgten. Artikel 212.1 sei rechtswidrig, er verstoße gegen elementare Rechtsregeln, allein schon dadurch, dass ein und dieselbe Tat mehrfach geahndet werden könne, eine Auffassung die auch der russische Anwalt Jurij Kostanow in einer Stellungnahme vertritt.

7. Dezember 2015

Oberstes Gericht in Russland gibt NGO Recht

Geldstrafe muss zurückerstattet werden

Das "Institut für regionale Presse", eine russische Nichtregierungsorganisation, hat ein Verfahren beim Obersten Gericht gewonnen.

Der NGO war eine Geldstrafe von 400.000 Rubeln auferlegt worden, weil sie sich nicht in das berüchtigte Register für angebliche "ausländische Agenten" hatte eintragen lassen. Diese Entscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt, bis das Oberste Gericht sie jetzt außer Kraft setzte. Es stellte auch das Administrativverfahren ein, da kein Straftatbestand vorliege.

Die bereits geleistete Strafzahlung muss zurückerstattet werden.

7. Dezember 2015

Präsentation von Andrzej Wajdas "Katyn" in Petersburg untersagt

Das russische Kultusministerium hat untersagt, Andrzej Wajdas Film „Katyn“ in den Räumlichkeiten des Wissenschaftlichen Informationszentrums von MEMORIAL Petersburg zu zeigen. Die Organisation habe hierfür nicht die Berechtigung des Ministeriums (die nach einer Gesetzesnovelle des letzten Jahres erforderlich ist). In dem Schreiben der Behörde, das Memorial heute erhielt,  steht im übrigen fälschlich „Chatyn“ statt „Katyn“. Ein Verstoß wird mit administrativen Geldstrafen geahndet.


Wajdas Film ist in Russland bereits mehrfach gezeigt worden, auch im staatlichen Fernsehen; allerdings wurde eine geplante Vorführung im Oktober dieses Jahres aus denselben Gründen unterbunden.

Das Joffe-Zentrum hat die Präsentation abgesagt und bekannt gegeben, die Frage mit dem Ministerium zu klären.

Am Abend des 26. November tauchten indes ein Vertreter des örtlichen Staatsanwalts unter Begleitung von sieben Polizisten beim NITs auf, angeblich um sich zu vergewissern, dass der Film tatsächlich nicht gezeigt wurde. Bei der Gelegenheit erzwangen sie sich auch zu den anderen Räumlichkeiten der Organisation gewaltsam Zutritt.

26. November 2015

Verwarnung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL

Verwarnung enthält nicht mehr den Vorwurf, die "verfassungsrechtliche Ordnung zu untergraben"

Das russische Justizministerium beschuldigt das Menschenrechtszentrum MEMORIAL offenbar nicht mehr, die verfassungsrechtliche Ordnung in Russland zu untergraben. Dies meldet heute die Zeitung Kommersant.

Dem Bericht zufolge ist dieser Vorwurf in der Verwarnung, die das Menschenrechtszentrum heute erhielt, nicht mehr enthalten. Es gehe nur noch um eine Reihe von Beanstandungen an der Satzung der Organisation. Hier sind Korrekturen und Anpassungen erforderlich, zum Teil infolge von Änderungen in der russischen Gesetzgebung.

Alexander Tscherkassow hält die Forderungen des Justizministeriums weitgehend für unbegründet und überflüssig: "Das Justizministerium wünscht, dass in der Satzung fast das gesamte Bürgerliche Gesetzbuch abgedruckt wird, aber dieses Problem haben nicht nur NGOs, sondern alle juristischen Personen."

Die ursprünglichen Vorwürfe gegen das Menschenrechtszentrum, die in dem Überprüfungsbericht des Justizministeriums enthalten waren, hatten Unruhe und Proteste im In- und Ausland ausgelöst. Thorbjørn Jagland, der Generalsekretär des Europarats, hatte die russischen Behörden dazu aufgerufen, russische Menschenrechtsaktivisten, darunter auch MEMORIAL zu schützen. Sowohl in Russland als auch in anderen Ländern kam es zu Mahnwachen und Protestkundgebungen.

Arsenij Roginskij hatte sich am 19. November an den Justizminister gewandt und an ihn appelliert, den Bescheid zu annullieren, "zumindest in dem Teil, der die absurden politischen Beschuldigungen enthält".

23. November 2015

Vorgehen des Justizministeriums untergräbt Vertrauen in die Verfassung

Schreiben von Arsenij Roginskij an den russischen Justizminister

Angesichts der skandalösen Beschuldigungen gegen das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat sich Arsenij Roginskij am 19. November mit dem folgenden Schreiben an den russischen Justizminister Alexander Konowalow gewandt und an ihn appelliert, den Bescheid gegen MEMORIAL zu annullieren.


"Sehr geehrter Herr Minister,

eine schwerwiegende Irritation, die durch Ihre Angestellten entstanden ist, veranlasst mich zu diesem Schreiben an Sie.

Im Oktober dieses Jahres führte das Justizministerium eine planmäßige Überprüfung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL durch. Diese Organisation ist Mitglied der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL für historische Aufklärung, soziale Fürsorge und Menschenrechte, deren Vorstand ich leite.

Der Überprüfungsbescheid (Nr. 77/03-47960 vom 30. Oktober) enthält vor allem Hinweise auf Korrekturen, die in der Satzung im Zusammenhang mit Änderungen der Gesetzgebung vorzunehmen sind. Das ist nichts Unerwartetes, diese Anpassungen sollten ohnehin auf der nächsten Vollversammlung beschlossen werden. Gegen einige weitere Beanstandungen, mit denen unsere Kollegen vom Menschenrechtszentrum nicht einverstanden sind, wird Widerspruch eingelegt.

Angesichts dieser rein routineartigen Bemerkungen ist jedoch das Urteil frappierend, die in Art. 10-11 des Bescheids steht: 'Mit ihrem Verhalten haben die Mitglieder des Menschenrechtszentrums MEMORIAL die Grundlagen der Verfassungsordnung der Russischen Föderation untergraben. Sie haben zum Umsturz der amtierenden Regierung und zu einer Änderung des politischen Regimes im Lande aufgerufen.'

Als Begründung für diese fantastischen Beschuldigungen führen die Mitarbeiter des Justizministeriums mehrere Bewertungen und Einschätzungen an, die MEMORIAL publiziert hat:

- die Behauptung (vom 29.8.2014), dass russländische Soldaten unmittelbar im militärischen Konflikt in der Ost-Ukraine beteiligt sind und die Aktionen Russlands gegen die Ukraine der Definition entsprechen, wie sie in der Resolution der UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember 1974 für eine Aggression formuliert wurde.

- die Ablehnung des nach Auffassung von MEMORIAL unrechtmäßigen Urteils im Bolotnaja-Verfahren (24.2.2014).

Sich kritisch über Maßnahmen der Regierung zu äußern, ist demnach für Mitarbeiter des Justizministeriums gleichbedeutend mit dem 'Untergraben der Grundlagen der Verfassungsordnung' und einem 'Aufruf zum Umsturz'.

Diese „Rechts“-Logik erinnert nicht nur an die Zeiten der Sowjetmacht, als das Andersdenken mit dem Untergraben der sozialistischen Ordnung identifiziert wurde, sondern es versetzt uns direkt in diese Epoche zurück.

Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert die Freiheit des Denkens und des Wortes, die Freiheit, Informationen zu suchen, zu erhalten und zu verbreiten (Art. 29), die Vereinigungsfreiheit (Art. 30). Meine Kollegen vom Menschenrechtszentrum MEMORIAL üben ihre von der Verfassung garantierten Rechte aus, wenn sie die bei ihrer Arbeit gesammelten Fakten darlegen und ihre Meinung und Einschätzung öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Formulierungen des Justizministeriums in dem Überprüfungsbescheid für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL sind nichts anderes als der Versuch, die verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten einzuschränken. Das ist ausdrücklich von der Verfassung untersagt. Ob Ihre Angestellten das aus Unwissen oder in böser Absicht tun, ist mir unbekannt.

Darüber hinaus sind den Verfassern des Bescheids mehrere eindeutige Fehler unterlaufen, sei es aus Eile oder infolge ihrer Voreingenommenheit. So werden dem Menschenrechtszentrum MEMORIAL Aussagen einer ganz anderen Organisation, nämlich der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL, zugeschrieben. Im Übrigen sind das natürlich Kleinigkeiten m Vergleich zu den oben genannten politischen Formulierungen.

Sehr geehrter Herr Minister! Ich wende mich an Sie mit der Bitte, den Überprüfungsbescheid für das Menschenrechtszentrum MEMORIAL vom 30. Oktober 2015 zu annullieren (zumindest im dem Teil, der die absurden politischen Beschuldigungen enthält) und eine dienstliche Untersuchung anzuordnen, wie ein Dokument mit derartigen Formulierungen überhaupt erstellt werden konnte. Derartige Überprüfungsbescheide schaden nicht nur den gesellschaftlichen Organisationen, gegen die sie sich richten. Sie untergraben auch das Vertrauen zu dem von Ihnen geleiteten Ministerium, vor allem aber erschüttern sie das Vertrauen in die Verfassung. Und das ist nicht ungefährlich.

Mit freundlichen Grüßen

Arsenij Roginskij
Vorsitzender des Vorstands der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL"

19. November 2015

Auszeichnung für Svetlana Gannuschkina und Alexander Gurjanow

Zwei namhafte Mitglieder von MEMORIAL sind mit dem Jegor-Gajdar-Preis ausgezeichnet worden: Svetlana Gannuschkina und Alexander Gurjanow.

 
 Svetlana Gannuschkina, Alexander Gurjanow

Der Jegor-Gajdar-Preis wird seit 2010 jährlich an vier Personen für Verdienste in den Bereichen Geschichte, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und internationale humanitäre Kontakte mit Russland verliehen. Weitere Preisträger in diesem Jahr sind der Demograf Anatolij Wischnewskij und der ehemalige deutsche Botschafter in Russland, Ernst-Jörg von Studnitz.

Svetlana Gannuschkina erhielt den Preis für ihren Einsatz für die "Entwicklung einer Zivilgesellschaft". Für seinen "überragenden Beitrag" auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft wurde Alexander Gurjanow ausgezeichnet. Gurjanow arbeitet seit Jahren an historischen MEMORIAL-Projekten zur russisch-polnischen Geschichte und hat maßgeblich an dem am 17. September vorgestellten Gedenkband für die Opfer von Katyn mitgewirkt.

Svetlana Gannuschkina bedankte sich mit den Worten, die Ehrung sei "Audruck der Solidarität, der Solidarität mit uns, mit unserem - ich möchte nicht sagen Kampf - mit unserer Arbeit, mit unserem Wirken für unsere Gesellschaft, für unser Land, für unsere Verfassung."

18. November 2015

Justizministerium schaltet Generalstaatsanwaltschaft ein

Das Justizministerium hat die Unterlagen im Zusammenhang mit der Überprüfung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL der Generalstaatsanwaltschaft zur Überprüfung zugeleitet. Dies erklärte ein Sprecher des Ministeriums auf eine Anfrage der Zeitung Kommersant

Weitere Fragen der Zeitung, etwa danach, ob der Vorwurf, die "verfassungsrechtliche Ordnung" zu untergraben, auch gegen andere Nichtregierungsorganisationen erhoben werde und ob jede Kritik an der Regierung die Grundlagen der Verfassung aushöhle, ließ das Ministerium unbeantwortet. Es hieß lediglich, in jedem Einzelfall werde invididuell entschieden.

Wie Michail Fedotov, der Leiter des Menschenrechtsrats beim Präsidenten, erklärte, wird der Menschenrechtsrat seinerseits eine Überprüfung vornehmen, auf Grund der gleichen Unterlagen, die dem Ministerium vorlagen. Der Ergebnisbericht werde dann im zuständigen Ausschuss oder auf einer Sitzung des Rats diskutiert und möglicherweise Präsident Putin zugeleitet.

12. November 2015

Menschenrechtszentrum MEMORIAL "untergräbt verfassungsrechtliche Ordnung"

Neue Attacke gegen MEMORIAL

Das russische Justizministerium beschuldigt das Menschenrechtszentrum MEMORIAL, "die Grundlagen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Russischen Föderation zu untergraben" und zum "Sturz der amtierenden Regierung sowie zu einer Änderung des politischen Regimes im Lande aufzurufen".

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL ist seit dem 21. Juli 2014 als angeblicher "ausländischer Agent" registriert. Seine Klagen gegen die Eintragung waren erfolglos.

Diese Behauptung steht in dem Bescheid, den das Justizministerium dem Menschenrechtszentrum MEMORIAL nach einer planmäßigen Überprüfung im Oktober dieses Jahres übermittelt hat. Begründet wird dies u. a. mit kritischen Stellungnahmen von MEMORIAL zur russischen Politik gegenüber der Ukraine und zum Bolotnaja-Verfahren gegen Teilnehmer an der Demonstration vom 6. Mai 2012.

Alexander Tscherkassow, der Leiter des Menschenrechtszentrums, bekräftigt die Position von MEMORIAL in diesen Fragen: "Das stimmt alles. Aber wo sind hier Aufrufe 'zum Sturz der amtierenden Regierung', die die Autoren des Schriftstücks uns zur Last legen? Offensichtlich ist für das Justizministerium Kritik an der Regierung gleichbedeutend mit einem Umsturzversuch".

Vertreter anderer NGOs, die dem Menschenrechtsrat beim Präsidenten angehören, haben sich in einer Erklärung unter dem Titel "Wir sind MEMORIAL" mit dem Menschenrechtszentrum solidarisiert, der man sich im Internet anschließen kann. Der Generalsekretär des Europarats Thorbjørn Jagland appellierte an die russischen Behörden, Menschenrechtsaktivisten und die Arbeit von MEMORIAL, einer der angesehensten und bekanntesten Menschenrechtsorganisationen, zu schützen.

11. November 2015

Duma-Ausschuss gegen Annullierung des "Agentengesetzes"

Der Duma-Ausschuss für gesellschaftliche und religiöse Vereinigungen hat sich dagegen ausgesprochen, in der Gesetzgebung den Begriff des "ausländischen Agenten" abzuschaffen.

Der oppositionelle Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow hatte dies im Juni dieses Jahres in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen. Zu diesem Zeitpunkt waren 68 NGOs als "Agenten" registriert, allerdings sind oder waren von diesen 68 nur 19 politisch tätig, wie Gudkov betonte. "Die anderen sind gemeinnützige Organisationen, Ökologen, Menschenrechtsorganisationen, die mit Politik nichts zu tun haben."

Wie der Ausschussvorsitzende Jaroslaw Nilow (LDPR) erklärte, soll das "Agentengesetz" zwar im Hinblick auf die Definition der "politischen Tätigkeit" korrigiert und präzisiert werden. Das Gesetz als solches müsse aber bestehen bleiben.

13. November 2015

Arsenij Roginskij: Registrierung als "ausländischer Agent" ist ein schwerer Schlag

Öffentlichkeitsarbeit des Wissenschaftlichen Informationszentrums von MEMORIAL Petersburg übernimmt Joffe-Zentrum

Arsenij Roginskij, Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL, hat sich bestürzt über die Registrierung des Wissenschaftlichen Informationszentrums (NITs) von MEMORIAL Petersburg als "ausländischer Agent" geäußert:

"Das ist ein schwerer Schag für alle, die sich dem Gedenken an die Opfer des sowjetischen Terrors widmen. Das Wissenschaftliche Informationszentrum von MEMORIAL ist eine der effizientesten gesellschaftlichen Organisationen, die sich damit befassen", so Roginskij.

MEMORIAL Petersburg habe eine singuläre Datenbank mit einem Verzeichnis von Grabstätten der Opfer politischen Terrors erstellt. Über eine derartige Auflistung verfüge keine andere Institution, weder eine staatliche noch eine gesellschaftliche. So habe das NITs zum Beispiel die Massenhinrichtungsstätten in Sandarmoch/Karelien und dem Kowalew-Wald bei St. Petersburg entdeckt.

Roginskij zeigte sich darüber hinaus erstaunt, dass das Justizministerium nicht einmal die Frist von zwei Wochen abgewartet habe, innerhalb derer die Organisation die Taxierung als "ausländischer Agent" anfechten könne. Das NITs habe den Überprüfungsbescheid "gerade erst bekommen, und die zwei Wochen sind noch nicht abgelaufen".

Das NITs erklärt dazu auf seiner Website:

"Am 6. November 2015 hat das Justizministerium der Russischen Föderation das Wissenschaftliche Informationszentrum von MEMORIAL in Petersburg (NITs) als "ausländischen Agenten" eingestuft. Diese Entscheidung verpflichtet uns, alle von uns veröffentlichten Materialien mit dem Vermerk zu versehen, dass sie 'von einer Organisation erstellt sind, die die Funktionen eines ausländischen Agenten ausübt.'

Das NITs beabsichtigt nicht, einen derartigen Vermerk auf seinen Publikationen anzubringen. Indes wird die Organisation ihre Arbeit nicht einstellen. Wir werden alle Projekte und Programme weiterführen. Wir geben hiermit bekannt, dass in Zukunft das Wenjamin-Joffe-Zentrum für Aufklärung die Öffentlichkeitsarbeit des NITs übernehmen wird."

Diese neue Website soll am 25. November freigeschaltet werden.

8. November 2015

Wissenschaftliches Informationszentrum MEMORIAL Petersburg als "ausländischer Agent" registriert

Wie das russische Justizministerium in einer Pressemitteilung erklärt, ist das Wissenschaftliche Informationszentrum (NITs) von MEMORIAL Petersburg mit heutigem Datum (6. November) als "ausländischer Agent" registriert worden.

Das Ministerium folgte damit der Bewertung in dem Überprüfungsbescheid vom 2. November, in dem die Tätigkeit des NITs als politisch eingestuft worden war, ohne die Entscheidung über die von MEMORIAL angekündigte Klage gegen den Bescheid abzuwarten.

Bis zum 6. November wurden insgesamt 100 NGOs in die berüchtigte Liste "ausländischer Agenten" aufgenommen. 15 davon sind zwar aus unterschiedlichen Gründen inzwischen nicht mehr als "Agenten" registriert (etwa weil sie keine Förderung aus dem Ausland mehr bekommen oder weil sie sich aufgelöst haben, um der Diskriminierung zu entgehen), sie bleiben aber auf der Liste verzeichnet, jedoch mit einem entsprechenden Vermerk zur Beendigung ihrer "Funktion" als "ausländischer Agent".

6. November 2015

MEMORIAL Petersburg droht Registrierung als "ausländischer Agent"

Das Wissenschaftliche Informationszentrum von MEMORIAL Petersburg (NITs) ist nach einer erneuten Überprüfung als "ausländischer Agent" eingestuft worden. 

Das NITs betreibt in erster Linie Programme zur Aufklärung über die sowjetische Vergangenheit. Eines seiner wichtigsten Projekte ist das "virtuelle GULAG-Museum".

Anders als bei allen bisherigen Prüfungen, wurde die Tätigkeit des NITS diesmal  als "politisch" interpretiert. In seinem Bescheid beruft sich das Justizministerium auf die Berichte und Artikel, die auf der Website ww.cogita.ru publiziert werden.

Auf diesem Portal erscheinen sowohl Informationen zu Aktionen von MEMORIAL als auch zu allgemeinen aktuellen Themen, vor allem im Raum Petersburg, Deren Verbreitung im offen zugänglichen Internet dient in den Augen des Justizministeriums der Meinungsbildung, und zwar zu dem Zweck, Einfluss auf staatliche Entscheidungen zu nehmen und so eine Änderung der Politik herbeizuführen Das entspricht der Definition von "politischer Tätigkeit", wie sie im "Agentengesetz" gegeben wird.

MEMORIAL Petersburg wird diesen Bescheid anfechten.

5. November 2015

"Soldatenmütter" nicht mehr als "ausländische Agenten" verzeichnet

Die "Soldatenmütter St. Petersburg" sind nicht mehr als "ausländische Agenten" registriert.

Die "Soldatenmütter" waren am 28. August 2014 als "ausländische Agenten" verzeichnet worden, unmittelbar nachdem sie Informationen über in der Ostukraine gefallene russische Soldaten publik gemacht hatten. Zu diesem Zeitpunkt erhielten sie indes bereits keinerlei finanzielle Förderung aus dem Ausland mehr, was eine der Voraussetzung für die diskriminierende Registrierung ist. Ein Antrag auf Löschung aus dem Verzeichnis wurde zunächst abgelehnt, weil ein derartiges Verfahren im Gesetz nicht vorgesehen sei.

Inzwischen gibt es aber diese gesetzliche Möglichkeit, und sie wird in Einzelfällen auch praktiziert. Die "Soldatenmütter" haben zwar keine offizielle Mitteilung über ihre Löschung aus dem Verzeichnis erhalten, sind aber seit dem 23. Oktober 2015 laut Register keine "ausländischen Agenten" mehr (offiziell auf Grund der "Beendigung der Funktion als ausländische Agenten").

Für den Pressesprecher der Organisation, Alexander Peredruk, bleibt das wesentliche Problem jedoch bestehen: "Dieses berüchtigte Register existiert nach wie vor, und der Druck auf die Vereinigungsfreiheit, den nichtkommerziellen Sektor und Menschenrechtsorganisationen wird fortgesetzt."

5. November 2015

Gedenkband zu Katyn wird fortgesetzt

"Ubity v Katyni" ("Die in Katyn Ermordeten") auch online zugänglich

MEMORIAL wird seine Bemühungen um Aufklärung und Aufarbeitung der Morde von Katyn fortsetzen. Der  am 17. September veröffentlichte Gedenkband zu den Opfern von Katyn mit Biografien von 4.415 Personen (zum Teil mit Fotografien), soll in den nächsten Jahren um weitere Bände ergänzt werden. Dies betonte Arsenij Roginskij im Rahmen einer Veranstaltung im Literaturhaus in Berlin, auf der er den Band kurz vorstellte.

Wesentliches Motiv für die akribische Recherche und Erstellung der Biografien  war laut Roginskij die Weigerung der Behörden, die Opfer zu rehabilitieren. Dies wird damit begründet, dass Rehabilitierungen individuell erfolgten und dass hier nur pauschale Angaben vorlägen, nicht jedoch zu Einzelpersonen - eine Aussage, die nicht zuletzt durch die jetzt vorliegende Edition widerlegt wird.

Der Gedenkband wurde mithilfe von Privatspenden aus Russland ermöglicht. Inzwischen ist der 865seitige Band auch online zugänglich (ca. 35 MB).

3. November 2015

"Rückgabe der Namen"

Gedenkkundgebungen in vielen russischen Städten

Auch in diesem Jahr fanden in ganz Russland zum 30. Oktober aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion Kundgebungen statt, die unter dem Motto "Rückgabe der Namen" stehen.

In Moskau fand die Verlesung der Namen traditionell bereits am 29. Oktober statt. Weitere Veranstaltungen wurden in St. Petersburg, Twer, Perm, Rjasan, Workuta, Wologda, Jekaterinburg, Tomsk, Tula, Samara, Woronezh und einigen weiteren Städten durchgeführt.


Fotos: Michail Konschiz

In Wologda wurde der Opfer der so genannten "polnischen Operation" 1937-38 gedacht. 41 polnische Bürger von Wologda waren im Zuge dieser Aktion zum Tode verurteilt worden. Vertreter der Gesellschaft "Polonia" von Wologda kamen an dem Gedenkstein zusammen, der sich neben dem ehemaligen NKWD-Untersuchungsgefängnis befindet, in dem die Hinrichtungen vollzogen wurden.


Bericht und Foto: Olga Schlenskaja, Wologda

In Rjasan wurden die Namen (mit kurzen biografischen Angaben) von 520 Opfern verlesen, die hingerichtet, zu Haftstrafen verurteilt oder deportiert worden waren.

Foto: Vera Cholodnaja

In Rjasan wie in Perm gab es, anders als in den Vorjahren, für die MEMORIAL-Verbände Probleme bei der Anmeldung der Kundgebung (da andere Veranstaltungen gleichzeitig am selben Ort geplant seien). In Rjasan wurde sie daher auf den 1. November (statt wie üblich am 30. Oktober) verlegt, und in Perm konnte sie schließlich doch wie geplant stattfinden.

Weitere Fotos von den Aktionen in Jekaterinburg, Tomsk und Workuta:

Gedenkveranstaltung von MEMORIAL Jekaterinburg



Gedenkveranstaltung in Workuta

4. November 2015

MEMORIAL Komi gibt Auflösung bekannt

Verband beendet achtzehnjährige Existenz

MEMORIAL Komi hat vor wenigen Tagen bekannt gegeben, die Auflösung der Organisation in die Wege zu leiten.

Der MEMORIAL-Verband in Syktyvkar (der Hauptstadt der Republik Komi) war im Juni 2015 als „ausländischer Agent“ registriert worden, obwohl das Justizministerium ein knappes Jahr zuvor noch ausdrücklich erklärt hatte, MEMORIAL Komi sei „kein ausländischer Agent“.

Die Klage von MEMORIAL Komi gegen die Registrierung blieb erfolglos, obwohl er seit Februar 2014 keine ausländische Förderung mehr bekommen hat. Darüber hinaus wurde der Verband zu einer Strafzahlung von umgerechnet 4.000 Euro verurteilt, weil er sich nicht selbst als „Agent“ hatte registrieren lassen.

Wie der Leiter der Organisation, Igor Sazhin, betont, ist es besser, sie aufzulösen, als das diskriminierende Etikett eines „ausländischen Agenten“ zu akzeptieren. Am 22. Oktober folgten die Mitglieder mehrheitlich der Empfehlung des Vorstands und stimmten für eine Auflösung. Es geht dabei um eine Liquidierung der "juristischen Person". Die Arbeit soll indessen weitergeführt werden, jedoch auf ehrenamtlicher Basis.

MEMORIAL Komi hat 18 Jahre lang existiert und war in den letzten Jahren heftigen Anfeindungen und gewaltsamen Attacken vor allem aus faschistischen Kreisen ausgesetzt.

"Viele NGOs haben sich inzwischen aufgelöst. Sie werden kein Geld mehr zur Verfügung haben, aber sie werden ihre Aktivitäten fortsetzen, aber davon wird nichts bekannt werden", so ein Kommentar von  Igor Sazhin in seinem Blog.

28. Oktober 2015

Ljudmila Alexejewa fordert Aufhebung des "Agentengesetzes"

Sitzung des Menschenrechtsrats mit Präsident Putin

Ljudmila Alexejewa hat Präsident Putin dazu aufgefordert, das berüchtigte "Agentengesetz" aufzuheben.

Ljudmila Alexejewa, seit kurzem wieder Mitglied im Menschenrechtsrat beim Präsidenten, äußerte diesen Appell am 1. Oktober auf der Sitzung des Rats, an der Präsident Putin teilnahm. Dabei schilderte sie detailliert die Auswirkungen dieses Gesetzes: Das Justizministerium stufe automatisch jede NGO, die ausländische Fördermittel bekomme, als "politisch tätig" und damit als "ausländischen Agenten" ein. Politische Tätigkeit werde nicht als Kampf um die politische Macht verstanden, sondern als Versuch, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen - und so lasse sich jegliche öffentliche Verlautbarung als "politische Tätigkeit" definieren.

Das Gesetz, das in dieser Weise angewendet werde und zu derart negativen Folgen geführt habe, sei schädlich und müsste aufgehoben werden.

Die Tatsache, dass viele NGOs auf ausländische Sponsoren angewiesen sind, sei historisch begründet. Nach dem Ende der Sowjetunion war das Land in allen Bereichen auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Inzwischen habe sich die Situation gebessert, aber NGOs bräuchten immer noch ausländische Unterstützung. In Russland habe es bisher ja keine Tradition zivilgesellschaftlicher Initiativen und NGOs gegeben. Wünschenswert wäre es natürlich, eine Förderung im eigenen Land zu bekommen. Private Sponsoren in Russland müssten ermutigt werden, NGOs - insbesondere Menschenrechtsorganisationen - in Russland finanziell zu unterstützen.

Präsident Putin reagierte mit einem Appell  an private Sponsoren, russische Menschenrechtsorganisationen zu unterstützen. In der Hauptsache blieb er unnachgiebig. Gesetze, die eine aus dem Ausland finanzierte innenpolitische Tätigkeit verbieten, gebe es in fast allen Ländern. Allerdings müsse der Begriff der "politischen Tätigkeit" genau definiert sein, er dürfe nicht unklar und dehnbar sein. Hier werde in den nächsten drei Monaten eine Änderung erfolgen.

2. Oktober 2015

Zur heutigen Situation des Museums "Perm-36"

Ein Gericht in Perm hat am 28. September die Klage der Nichtregierungsorganisation (ANO) Perm-36 gegen ihre Eintragung als „ausländischer Agent“ abgelehnt. Diese Eintragung hatte das Justizministerium im April vorgenommen. Die Organisation hatte bereits im März erklärt, ihre Auflösung in die Wege zu leiten. Sie wird derzeit mit mehreren Gerichtsverfahren unter Druck gesetzt.

Das Museum Perm-36 auf dem Gelände des ehemaligen Lagers befindet sich nun in staatlicher Hand. Der politische Strafvollzug wird weitgehend aus der damals offiziellen Sicht – als Umerziehung - dargestellt.

Hierzu der nachfolgende Bericht von Anke Giesen, die kürzlich im Rahmen einer Konferenz an einer Führung dort teilgenommen hat:

Besuch des Museums „Perm-36“ in Kutschino bei Perm
Da ich schon zweimal im Museum war, einmal zu Zeiten der ehemaligen Leitung im Oktober 2013, einmal ein dreiviertel Jahr nach der Änderung der Leitung im Dezember 2014, war ich auf die Veränderungen vor Ort sehr gespannt.
Geführt wurde die deutsche Gruppe von Natalia Vožakova, die russische von Sergej Spodin, dessen Führung ich beim letzten Male schon mitgemacht hatte. Daher entschied ich mich für Natalia Vožakova.

Reihenfolge:

1. Strafisolator incl. Arbeitsplatz: keine Veränderungen. Problematisch war allerdings, dass ständig von „Wir“ gesprochen wurde in Bezug auf die Museumserstellung. Die Nachfrage, wer denn „Wir“ sei, die frühere oder die jetzige Leitung, wurde ausweichend beantwortet.

2. Wohnbaracke: Im Vorraum ist jetzt eine „rote Ecke“. Dort steht ein Tisch, auf dem eine rote Tischdecke liegt und kommunistische Nippesfiguren stehen. Unter Glas ist der Briefwechsel des ehemaligen litauischen Insassen Antanas Terijackas mit dem damaligen Dozenten der Strafvollzugshochschule und jetzigen wissenschaftlichen Berater des Museums Michail Suslov einzusehen, der bis heute den Umerziehungsgedanken des GULAG vertritt. Im Schriftwechsel ging es um grundsätzliche philosophische Fragen, Suslov erklärt dem Häftling, warum der Sozialismus die bessere Gesellschaftsform ist. Zusätzlich gibt es im Regal an der Wand viele Bücher von Lenin und anderen kommunistischen Führern.
3. Erster Schlafraum der Wohnbaracke: hier standen früher die für die GULAG-Lager typischen rohen Holzpritschen. Jetzt befindet sich hier die Ausstellung „Die Evolution der Betten“: Neben zwei rohen Holzpritschen stehen nun zunächst Etagenbetten aus Metall, schließlich Einzelbetten. Während die erste Holzpritsche ganz nackt ist, sind auf der nächsten schon Decken, in den Metallbetten schließlich Bettzeug bis zum hübsch bezogenen Einzelbett. Zwischen den Etagenbetten steht ein Nachtschrank mit einem Schachspiel.

Es wird uns erklärt, dass die Belegung der Kolonie mit den Jahren   stetig abnahm, von über tausend Menschen zu lediglich noch 150 Insassen in den Achtzigern. Auch hätten sich die Haftbedingungen ständig verbessert. Da der andere Schlafraum leer war, habe ich gefragt, was sich dort früher befand, zu Zeiten der früheren Leitung. Es kam eine ausweichende Antwort.

4. Vorraum der anderen Seite der Wohnbaracke: Hier steht eine Garderobe mit Filzstiefeln und warmer Arbeitskleidung, eine Ausrüstung, von der die ehemaligen Insassen V. Pestov und N. Braun sagen, dass sie sie nie hatten. Es gibt keine Hinweise, auf welchen Quellen der Nachbau beruht.

5. Erster Schlafraum: Die Austellung der NGO Perm-36 mit Fotos und Artefakten des GULAG ist hier unverändert. Lediglich das Führungsnarrativ beschränkt sich jetzt auf Fakten.

6. Zweiter Schlafraum: Hier befinden sich Teile der Biographien-Austellung, die noch von der NGO Perm-36 erstellt worden und zeitweilig versiegelt war, da sie damals als Auslöser der Konflikte galt. Reste des Siegels kann man an der Tür noch erkennen. Die Biographien von Vasyl Ovsienko, Vasyl Stus, Sergej Kovalev und weitere sind wieder zu sehen.
 

Allerdings sind die Informationen zum Gesamt-GULAG-System an der Stirnwand ausgetauscht worden durch Pläne der beiden Lageranlagen (strenge Haftbedingungen und Sonderhaftbedingungen). Außerdem gibt es gegenüberliegend eine neue Bücherwand mit den gesammelten Werken Lenins.

7. Zweite Baracke (ehemalige Krankenstation): Vorraum: Tisch mit Tischtuch. Schlafraum: Hier befand sich früher eine Fotoausstellung zu den Lagern an der Kolyma. Die ist jetzt durch eine andere von dem Fotografen Aleksandr Zelinskij aus dem GULAG-Museum Moskau ersetzt worden, die die Überreste der Zwangsarbeit in den Minen ästhetisierend einfängt.

8. Kinosaal: Das Interieur hat sich nicht geändert. Hier wird jetzt der Film „Vlast‘ Soloveckaja“ (Die Macht der Solovezki) von Marina Goldovskaja aus dem Jahre 1988 über die Solovezki-Lager (1923-1929) gezeigt.

9. Außenanlage: Im Großen und Ganzen keine Veränderungen an den Außenanlagen. Es wurde uns lediglich ein Areal gezeigt, in dem nach Angabe der Museumsführerin „Ausgrabungen“ stattfanden. Zudem wurden inzwischen Plakate aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ zur Mobilisierung der Bevölkerung aufgehängt und eine Tafel aufgestellt: Links werden Zahlen aufgeführt, wie das GULAG-System als Produktionsfaktor den Sieg unterstützt hat, daneben werden einzelne Personen vorgestellt, die wie der Flugzeugkonstrukteur Tupolev während ihrer Lagerhaft Bedeutendes zum Sieg beigetragen haben (s. hier).

10. Ehemaliger Lagerraum, in dem sich heute eine nachgebaute „Krankenstation“ befindet: Die Austattung der Krankenstation übertrifft im Hinblick auf die Freundlichkeit die Ausstattung vieler gegenwärtiger Krankenstationen in der russischen Provinz: blütenweiße Laken, Bilder an der Wand etc. Wieder keine Angabe von Quellen, auf denen der Nachbau beruht. Es wird erzählt, die Dinge habe man auf der mit dem GULAG-Museum Moskau gemeinsam durchgeführten Exkursion gefunden. In einem Nebenraum befindet sich ein Schrankt mit abschließbaren Fächern, in denen sich Seife, Zigaretten, Zahnbürsten udn andere Kleinigkeiten befinden. Es wird dazu erklärt, dass hier die Gefangenen ihre persönlcihen Sachen aufbewahren konnten.

11. Garage: Austellung mit dem Titel „Zerbrochen durch Sturmbruch“ über den Beitrag der GULAG-Insassen und Spezialumsiedler zum Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“: Große Fotos, auf denen fröhliche, gutgenährte Menschen in warmer Kleidung abgebildet sind, die sich im Wald ihrer Tätigkeit in der Holzverarbeitung erfreuen. Nach Feierabend gehen sie fischen. Fazit: „Wir im GULAG unterstützen glücklich die Soldaten an der Front!“ Es wurde zwar auf die Archive verwiesen, aus denen die Fotos stammten, nicht aber, um welche Menschen es sich darauf tatsächlich handelte.
Die Baracke mit den Sonderhaftbedingungen wurde uns nicht gezeigt, weil sie angeblich gerade repariert würde.

Auf der nachfolgenden Versammlung im Kinosaal waren neben der Direktorin Natalja Semakova und ihrem Stellvertreter Grigorij Sarantscha auch Michail Fedotov, der gegenwärtige Vorsitzende des Menschenrechtsrates, Andrej Sorokin, der Direktor des Archivs für politische und soziale Geschichte, und Anatolij Machovikov, der Leiter der Gouverneursverwaltung, anwesend.

Auf die Fragen der anwesenden Konferenzteilnehmer, warum Dinge ausgestellt werden, die ehemalige Gefangene als geschichtsverfälschend bezeichnet hätten, antwortete der stellvertretende Direktor Grigorij Sarantscha ausweichend: Es ginge um andere Zeitpunkte, und wenn zwei das genau Gleiche erzählten, würde es sowieso nicht stimmen.

Eine Übersetzung des Einführungstextes der Ausstellung findet sich hier.


Fotos: Liisa Savolainen

Eine weitere Schilderung des Museums Perm-36 von russischen Wissenschaftlern finden Sie hier (deutscher Übersetzung von Enrico Heitzer hier), eine ausführliche Beschreibung (russisch) auch hier.

Weitere Geldstrafen gegen NGOs

Sacharow-Zentrum zu hoher Strafzahlung verurteilt. Menschenrechtszentrum MEMORIAL verliert Revision

Das Sacharow-Zentrum soll nach einem Urteil vom 30. September 400.000 Rubel Strafe zahlen, weil es eine seiner Publikationen nicht als die eines „ausländischen Agenten“ gekennzeichnet hatte. Auf eine diesbezügliche Aufforderung hat das Zentrum auf seiner Website unten folgenden Vermerk angebracht: Das Sacharow-Zentrum „wurde auf Beschluss des Justizministeriums der Russischen Föderation vom 25.12.2014 Nr. 1990-r in das Register der Organisationen eingetragen, die die Funktion eines ausländischen Agenten ausüben. Diesen Beschluss fechten wir gerichtlich an.“

Bereits im März war das Sacharow-Zentrum zu einer Geldstrafe von 300.000 Rubeln verurteilt worden, weil es sich nicht selbst in das Verzeichnis hatte aufnehmen lassen.

Das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat seine Klage gegen seine doppelte Geldstrafe in Höhe von 600.000 Rubeln inzwischen verloren und wird wiederum in Revision gehen. Allerdings muss die Strafe innerhalb von zwei Monaten beglichen werden.

Das Menschenrechtszentrum wurde ebenfalls verurteilt, weil es auf zwei Publikationen nicht vermerkt habe, als "ausländischer Agent" zu fungieren. Die Tatsache, dass es sich hier um Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL (und nicht des Menschenrechtszentrums) handelte, ließ das Gericht unberücksichtigt. Diese Tatsache wurde auf der heutigen Sitzung des Rats für Menschenrechte im Beisein von Präsident Putin von der Menschenrechtsbeauftragten Ella Pamfilova zur Sprache gebracht.

1. Oktober 2015

Denkmal für die Opfer politischer Repressionen

Präsident Putin hat am heutigen 30., September den Erlass zur Errichtung eines Denkmals für die Opfer politischer Verfolgungen in der Sowjetunion unterzeichnet.

Ein solches Denkmal war seit jeher eine wesentliche Forderungen von MEMORIAL. Nach einer vorangegangenen Ausschreibung erhielt der Bildhauer Georgij Franguljan für sein Projekt den Zuschlag.


Das Denkmal soll an der Kreuzung Sadowaja-Spasskaja-Straße/Sacharow-Prospekt errichtet werden.

30. September 2015

Gedenkband zu Katyn veröffentlicht

Crowdfunding erfolgreich

MEMORIAL International präsentiert am heutigen 17. September in Moskau einen russischsprachigen Gedenkband für die Opfer von Katyn. Er enthält Kurzbiographien von 4.415 polnischen Gefangenen, die 1940 bei Katyn vom sowjetischen Geheimdienst NKWD erschossen wurden.

Dieser Edition war eine längere Spendensammlung vorausgegangen. 800.000 Rubel wurden benötigt. Durch Crowdfunding ist es gelungen, die Summe zusammenzubringen.

17. September 2015

MEMORIAL Deutschland warnt vor russischer Propaganda in deutschen Medien

Vorstand: "RT Deutsch und Sputnik sind kein Beitrag zur Meinungsvielfalt"

MEMORIAL Deutschland e. V., Mitglied der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL (Sitz in Moskau), warnt vor einer Zunahme russischer Propaganda in deutschsprachigen Medien.

Mit immer umfassenderen Angeboten versucht die staatlich gelenkte Medienholding „Rossija Segodnja“ über ihre Dienste „RT Deutsch“ (Russia Today) und „Sputnik/Radio SNA“ (Sputnik News Agency) Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Häufige Mittel sind dabei die Verbreitung von Unwahrheiten, Verkürzungen und Verfälschungen.

Laut Medienberichten versucht die russische Staatsholding aktuell verstärkt deutsche Radiopartner zur Verbreitung ihrer Nachrichten und Informationsangebote zu gewinnen. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ (Ausgabe vom 2.09.2015) berichtet, wurden aus diesem Grund mehrere Radiosender vom Tochterunternehmen Sputnik angeschrieben. Es gehe darum, Sendezeit von ein bis zwei Stunden täglich beziehungsweise einige Nachrichtenblöcke von jeweils 20 Minuten für den Dienst in deutscher Sprache zu erhalten.

Dazu erklärt der Vorstand von MEMORIAL Deutschland:

„Wir warnen ausdrücklich vor einer Annahme dieser Offerten. Jeder Sender in Deutschland, der Programme von „Sputnik/Radio SNA“ oder auch das TV-Fenster „Der fehlende Part“ von RT Deutsch übernimmt, sei es als Geschäftsmodell oder aus ideologischen Gründen, muss sich bewusst sein, dass er sich der vorsätzlichen Verbreitung von Propaganda und Desinformation mitschuldig macht.

Während erste Anbieter in Deutschland der russischen Staatsholding bereits freizügig Sendeflächen einräumen, ist in Russlands Radio und TV kaum noch sachliche und unabhängige Berichterstattung möglich. Dort wie hier versucht der Kreml mit Verdrehungen und Falschmeldungen vom Fließband das Meinungsbild zugunsten der russischen Politik zu beeinflussen, unteranderem um die Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen.

RT und Sputnik/Radio SNA sind russische Staatsmedien par excellence, von Präsident Putin ins Leben gerufen und vom Kreml bezahlt. Sie sind Programme eines Staates, der gegen Homosexuelle, Kaukasier und sonstige Minderheiten, die Ukraine und unabhängige Medien hetzt; in dem im Jahr 2015 neue Stalin-Büsten und Gedenkstätten entstehen und staatsunabhängige Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit einstellen müssen.

Die Übernahme von Programmangeboten wie RT Deutsch oder Sputnik/Radio SNA hat daher nichts mit einem Beitrag zur Meinungsvielfalt zu tun, sondern ist Teil eines Informationskrieges gegen Demokratie und westliche Werte. Wer sich ernsthaft für die Menschen und Menschenrechte in Russland interessiert, der geht nicht der staatlichen russischen Propaganda auf den Leim.“

MEMORIAL Deutschland ruft die Veranstalter sämtlicher Medienplattformen auf, Meldungen und Programminhalte von „Rossija Segodnja“ sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und von automatisierten Übernahmen abzusehen.


Pressekontakt:
presse@memorial.de

15. September 2015

"Liberale Mission" ist kein "ausländischer Agent" mehr

Stiftung aus "Agentenregister" ausgetragen

Die Stiftung „Liberale Mission“, eine Stiftung für theoretische und angewandte Forschung, ist am 11. September aus dem Verzeichnis angeblicher ausländischer Agenten ausgetragen worden. Begründet wird dies auf der entsprechenden Seite des Justizministeriums damit, dass sie aufgehört habe, die „Funktionen eines ausländischen Agenten auszuüben“.

Erst am 25. Mai war die „Liberale Mission“, zusammen mit der Stiftung „Dinastija“, in das Register eingetragen worden. Als Begründung hatte ihrer beider Kooperation gedient, konkret die finanzielle Unterstützung zweier Programme der „Mission“ durch „Dinastija“. Anstoß beim Justizministerium erregte dabei, dass diese Gelder von einem ausländischen Konto kamen.

Im Juni verurteilten zwei Moskauer Gerichte beide Stiftungen jeweils zu einer Strafzahlung von 300.000 Rubeln, weil sie nicht selbst ihre Registrierung als „Agenten“ veranlasst hatten. Die Klage der „Liberalen Mission“ gegen die Eintragung ist noch anhängig, ihre Behandlung steht im Oktober an. „Dinastija“ hatte von einer Klage abgesehen und am 5. Juli angekündigt, ihre Auflösung in die Wege zu leiten.

Wie Jewgenij Jasin, der Leiter der „Liberalen Mission, erklärte, hat er von der Löschung seiner Stiftung aus dem Verzeichnis nicht vom Justizministerium, sondern von Journalisten erfahren. Er betonte, seine Stiftung habe keinerlei besonderen Schritte in dieser Richtung unternommen, sondern weitergearbeitet wie bisher.

15. September 2015