Schreiben von Arsenij Roginskij an den russischen Justizminister
Angesichts der skandalösen Beschuldigungen
gegen das Menschenrechtszentrum MEMORIAL hat sich Arsenij Roginskij am
19. November mit dem folgenden Schreiben an den russischen
Justizminister Alexander Konowalow gewandt und an ihn appelliert, den
Bescheid gegen MEMORIAL zu annullieren.
"Sehr geehrter Herr Minister,
eine schwerwiegende Irritation, die durch Ihre Angestellten entstanden ist, veranlasst mich zu diesem Schreiben an Sie.
Im Oktober dieses Jahres führte das
Justizministerium eine planmäßige Überprüfung des Menschenrechtszentrums
MEMORIAL durch. Diese Organisation ist Mitglied der Internationalen
Gesellschaft MEMORIAL für historische Aufklärung, soziale Fürsorge und
Menschenrechte, deren Vorstand ich leite.
Der Überprüfungsbescheid (Nr. 77/03-47960 vom 30.
Oktober) enthält vor allem Hinweise auf Korrekturen, die in der Satzung
im Zusammenhang mit Änderungen der Gesetzgebung vorzunehmen sind. Das
ist nichts Unerwartetes, diese Anpassungen sollten ohnehin auf der
nächsten Vollversammlung beschlossen werden. Gegen einige weitere
Beanstandungen, mit denen unsere Kollegen vom Menschenrechtszentrum
nicht einverstanden sind, wird Widerspruch eingelegt.
Angesichts dieser rein routineartigen Bemerkungen
ist jedoch das Urteil frappierend, die in Art. 10-11 des Bescheids
steht: 'Mit ihrem Verhalten haben die Mitglieder des
Menschenrechtszentrums MEMORIAL die Grundlagen der Verfassungsordnung
der Russischen Föderation untergraben. Sie haben zum Umsturz der
amtierenden Regierung und zu einer Änderung des politischen Regimes im
Lande aufgerufen.'
Als Begründung für diese fantastischen
Beschuldigungen führen die Mitarbeiter des Justizministeriums mehrere
Bewertungen und Einschätzungen an, die MEMORIAL publiziert hat:
- die Behauptung (vom 29.8.2014), dass russländische
Soldaten unmittelbar im militärischen Konflikt in der Ost-Ukraine
beteiligt sind und die Aktionen Russlands gegen die Ukraine der
Definition entsprechen, wie sie in der Resolution der
UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember 1974 für eine Aggression formuliert
wurde.
- die Ablehnung des nach Auffassung von MEMORIAL unrechtmäßigen Urteils im Bolotnaja-Verfahren (24.2.2014).
Sich kritisch über Maßnahmen der Regierung zu
äußern, ist demnach für Mitarbeiter des Justizministeriums
gleichbedeutend mit dem 'Untergraben der Grundlagen der
Verfassungsordnung' und einem 'Aufruf zum Umsturz'.
Diese „Rechts“-Logik erinnert nicht nur an die
Zeiten der Sowjetmacht, als das Andersdenken mit dem Untergraben der
sozialistischen Ordnung identifiziert wurde, sondern es versetzt uns
direkt in diese Epoche zurück.
Die Verfassung der Russischen Föderation garantiert
die Freiheit des Denkens und des Wortes, die Freiheit, Informationen zu
suchen, zu erhalten und zu verbreiten (Art. 29), die
Vereinigungsfreiheit (Art. 30). Meine Kollegen vom Menschenrechtszentrum
MEMORIAL üben ihre von der Verfassung garantierten Rechte aus, wenn sie
die bei ihrer Arbeit gesammelten Fakten darlegen und ihre Meinung und
Einschätzung öffentlich zum Ausdruck bringen. Die Formulierungen des
Justizministeriums in dem Überprüfungsbescheid für das
Menschenrechtszentrum MEMORIAL sind nichts anderes als der Versuch, die
verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten einzuschränken. Das ist
ausdrücklich von der Verfassung untersagt. Ob Ihre Angestellten das aus
Unwissen oder in böser Absicht tun, ist mir unbekannt.
Darüber hinaus sind den Verfassern des Bescheids
mehrere eindeutige Fehler unterlaufen, sei es aus Eile oder infolge
ihrer Voreingenommenheit. So werden dem Menschenrechtszentrum MEMORIAL
Aussagen einer ganz anderen Organisation, nämlich der Internationalen
Gesellschaft MEMORIAL, zugeschrieben. Im Übrigen sind das natürlich
Kleinigkeiten m Vergleich zu den oben genannten politischen
Formulierungen.
Sehr geehrter Herr Minister! Ich wende mich an Sie
mit der Bitte, den Überprüfungsbescheid für das Menschenrechtszentrum
MEMORIAL vom 30. Oktober 2015 zu annullieren (zumindest im dem Teil, der
die absurden politischen Beschuldigungen enthält) und eine dienstliche
Untersuchung anzuordnen, wie ein Dokument mit derartigen Formulierungen
überhaupt erstellt werden konnte. Derartige Überprüfungsbescheide
schaden nicht nur den gesellschaftlichen Organisationen, gegen die sie
sich richten. Sie untergraben auch das Vertrauen zu dem von Ihnen
geleiteten Ministerium, vor allem aber erschüttern sie das Vertrauen in
die Verfassung. Und das ist nicht ungefährlich.
Mit freundlichen Grüßen
Arsenij Roginskij
Vorsitzender des Vorstands der Internationalen Gesellschaft MEMORIAL"
19. November 2015
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