Mittwoch, 5. März 2014

Zum Tod von Boris Pustynzew

Am 4. März 2014 starb Boris Pustynzew in Sankt Petersburg. Wir haben einen Freund verloren. Boris war ein unabhängiger Denker, ein sensibler Philologe, ein engagierter Menschenrechtler.


1935 in Wladiwostok geboren, wuchs er dort bis zum sechzehnten Lebensjahr auf. „Alles begann mit dem Jazz“, bekannte er einmal. Als zehn-elfjähriger begann er, über einen Kurzwellenempfänger Jazz aus den USA zu hören. Die Musik, die er noch nie gehört hatte, begeisterte ihn. Dann wollte er verstehen, was vor und nach der Musik gesagt wurde, und begann selbständig Englisch zu lernen. Daher konnte er auch bald Nachrichten hören, die er ebenfalls aus sowjetischen Quellen nicht zu erfahren bekam.

Sein zweites Schlüsselerlebnis hatte Boris mit 14. Er sah, wie ein Mann auf der Straße hinfiel. Er half ihm und brachte ihn nach Hause – ein kahles Zimmer in einer Kommunalwohnung, in dem es nur eine Liege und zwei Stühle gab. Er begann, den Mann zu besuchen – er war ein politischer Häftling, der zum Sterben aus dem Lager entlassen worden war. Der Mann fasste Vertrauen und begann zu erzählen. Das, was er berichtete, stimmte mit den Nachrichten aus Amerika überein.

So kam es, dass sich Boris, als er mit 16 Jahren mit seinen Eltern nach Leningrad zog, bereits als Antikommunist fühlte. Er trat auch nicht dem Komsomol, der sowjetischen Jugendorganisation, bei.

1954 begann Boris Pustynzew am ersten Leningrader Pädagogischen Institut für Fremdsprachen zu studieren. Im Herbst 1956 fanden sich dort Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammen, die sich „Union der Kommunisten-Leninisten“ nannte und zum Ziel hatte, für einen wirklichen Sozialismus zu kämpfen. Sie verbreiteten Flugblätter gegen eine Fortsetzung des Stalinismus und gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn. Für Boris war das eine Gewissensentscheidung. Er sagte später darüber: „Wir verstanden, dass wir nichts ändern werden. Aber wir spürten die Notwendigkeit, der Macht zu sagen: ‚Ihr seid Verbrecher, Ihr seid Schurken! Wir sind nicht auf Eurer Seite!‘“ Im Mai 1957 wurde die Gruppe verhaftet, im September fand der Prozess statt. Boris Pustynzew wurde zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. 1962 kam er aufgrund einer Amnestie aus dem Lager in Mordwinien frei. 1993 wurde er mit dem Offizierskreuz für Verdienste um die Republik Ungarn, dem höchsten Orden, den Ausländer erhalten können, geehrt.

Boris Pustynzew absolvierte 1966 die Abendkurse des Pädagogischen Herzen-Instituts als Englisch-Lehrer. Er arbeitete in den Lenfilm-Studios als Regisseur für Synchronisation. Als 1984 der KGB-Mitarbeiter, der in den 50er Jahren die Untersuchungen gegen die Gruppe von Boris geführt hatte, die Leitung von Lenfilm übernahm, verlor Boris seine Arbeit. Er fand eine Stelle bei Tallinfilm, wo der Personalbeauftragte, der seine Papiere entgegennahm, mit Blick auf Boris‘ Haftzeit sagte: „Für uns ist das die beste Empfehlung.“ 1989 konnte Boris nach Leningrad zurückkehren. Nachdem er 1991 die KGB-Vergangenheit eines Sankt Petersburger Politikers öffentlich in Erinnerung gerufen hatte, wurde er überfallen und zusammengeschlagen. Dabei traten die Täter ihm direkt in die Augen, sagten nichts und nahmen ihm nichts weg. Boris musste sich mehreren Augenoperationen unterziehen, in seinem Beruf konnte er nicht mehr arbeiten.

In den 60er bis 80er Jahren beteiligte sich Boris Pustynzew aktiv an der unabhängigen Menschenrechtsbewegung – er war ein Dissident im klassischen Sinne. 1991 bis 1996 war er Ko-Vorsitzender von Memorial in Sankt Petersburg. 1992 gründete er die Menschenrechtsorganisation „Bürgerkontrolle“, deren Vorsitzender er bis zuletzt war.

Boris blieb bei seinem Widerstand gegen jede Spielart des „imperialen Komplexes“ und verurteilte nicht nur den Einmarsch in Ungarn, sondern auch alle weiteren Versuche der Sowjetunion und später der Russischen Föderation, Einflusssphären durch Einmischung oder gar Interventionen in souveräne Staaten beizubehalten oder hinzuzugewinnen. Er hatte ein feines Gespür für Propaganda, die lange vor solchen Konflikten einsetzte und damals wie heute von einer „adäquaten Reaktion“ sprach – für ihn ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das Gegenteil von Angemessenheit bevorstand. Gleichzeitig war er immer gesprächs- und kooperationsbereit gegenüber Vertretern staatlicher Einrichtungen, wissend, dass Staat und Gesellschaft viele Probleme nur gemeinsam lösen können.

Wir haben einen Freund verloren, einen Menschen voller Lebensfreude und Humor. Aber als Lehrer, der uns eine aufrechte Haltung, Dialogfähigkeit und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung vorlebte, wird uns Boris weiter begleiten. Unser Mitgefühl gilt seiner Witwe und seiner Tochter.

Uta Gerlant
MEMORIAL Deutschlan

 Ausführliche Informationen und Materialien zu Boris Pustynzew in russischer Sprache finden Sie auf der Seite der Organisation "Bürgerkontrolle" hier.

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