Am 4. März 2014 starb Boris Pustynzew in Sankt
Petersburg. Wir haben einen Freund verloren. Boris war ein unabhängiger
Denker, ein sensibler Philologe, ein engagierter Menschenrechtler.
1935 in Wladiwostok geboren, wuchs er dort bis zum
sechzehnten Lebensjahr auf. „Alles begann mit dem Jazz“, bekannte er
einmal. Als zehn-elfjähriger begann er, über einen Kurzwellenempfänger
Jazz aus den USA zu hören. Die Musik, die er noch nie gehört hatte,
begeisterte ihn. Dann wollte er verstehen, was vor und nach der Musik
gesagt wurde, und begann selbständig Englisch zu lernen. Daher konnte er
auch bald Nachrichten hören, die er ebenfalls aus sowjetischen Quellen
nicht zu erfahren bekam.
Sein zweites Schlüsselerlebnis hatte Boris mit 14.
Er sah, wie ein Mann auf der Straße hinfiel. Er half ihm und brachte ihn
nach Hause – ein kahles Zimmer in einer Kommunalwohnung, in dem es nur
eine Liege und zwei Stühle gab. Er begann, den Mann zu besuchen – er war
ein politischer Häftling, der zum Sterben aus dem Lager entlassen
worden war. Der Mann fasste Vertrauen und begann zu erzählen. Das, was
er berichtete, stimmte mit den Nachrichten aus Amerika überein.
So kam es, dass sich Boris, als er mit 16 Jahren mit
seinen Eltern nach Leningrad zog, bereits als Antikommunist fühlte. Er
trat auch nicht dem Komsomol, der sowjetischen Jugendorganisation, bei.
1954 begann Boris Pustynzew am ersten Leningrader
Pädagogischen Institut für Fremdsprachen zu studieren. Im Herbst 1956
fanden sich dort Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammen, die sich
„Union der Kommunisten-Leninisten“ nannte und zum Ziel hatte, für einen
wirklichen Sozialismus zu kämpfen. Sie verbreiteten Flugblätter gegen
eine Fortsetzung des Stalinismus und gegen den Einmarsch sowjetischer
Truppen in Ungarn. Für Boris war das eine Gewissensentscheidung. Er
sagte später darüber: „Wir verstanden, dass wir nichts ändern werden.
Aber wir spürten die Notwendigkeit, der Macht zu sagen: ‚Ihr seid
Verbrecher, Ihr seid Schurken! Wir sind nicht auf Eurer Seite!‘“ Im Mai
1957 wurde die Gruppe verhaftet, im September fand der Prozess statt.
Boris Pustynzew wurde zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. 1962 kam er
aufgrund einer Amnestie aus dem Lager in Mordwinien frei. 1993 wurde er
mit dem Offizierskreuz für Verdienste um die Republik Ungarn, dem
höchsten Orden, den Ausländer erhalten können, geehrt.
Boris Pustynzew absolvierte 1966 die Abendkurse des
Pädagogischen Herzen-Instituts als Englisch-Lehrer. Er arbeitete in den
Lenfilm-Studios als Regisseur für Synchronisation. Als 1984 der
KGB-Mitarbeiter, der in den 50er Jahren die Untersuchungen gegen die
Gruppe von Boris geführt hatte, die Leitung von Lenfilm übernahm, verlor
Boris seine Arbeit. Er fand eine Stelle bei Tallinfilm, wo der
Personalbeauftragte, der seine Papiere entgegennahm, mit Blick auf
Boris‘ Haftzeit sagte: „Für uns ist das die beste Empfehlung.“ 1989
konnte Boris nach Leningrad zurückkehren. Nachdem er 1991 die
KGB-Vergangenheit eines Sankt Petersburger Politikers öffentlich in
Erinnerung gerufen hatte, wurde er überfallen und zusammengeschlagen.
Dabei traten die Täter ihm direkt in die Augen, sagten nichts und nahmen
ihm nichts weg. Boris musste sich mehreren Augenoperationen
unterziehen, in seinem Beruf konnte er nicht mehr arbeiten.
In den 60er bis 80er Jahren beteiligte sich Boris
Pustynzew aktiv an der unabhängigen Menschenrechtsbewegung – er war ein
Dissident im klassischen Sinne. 1991 bis 1996 war er Ko-Vorsitzender von
Memorial in Sankt Petersburg. 1992 gründete er die
Menschenrechtsorganisation „Bürgerkontrolle“, deren Vorsitzender er bis
zuletzt war.
Boris blieb bei seinem Widerstand gegen jede
Spielart des „imperialen Komplexes“ und verurteilte nicht nur den
Einmarsch in Ungarn, sondern auch alle weiteren Versuche der Sowjetunion und später der Russischen Föderation, Einflusssphären durch Einmischung
oder gar Interventionen in souveräne Staaten beizubehalten oder
hinzuzugewinnen. Er hatte ein feines Gespür für Propaganda, die lange
vor solchen Konflikten einsetzte und damals wie heute von einer
„adäquaten Reaktion“ sprach – für ihn ein eindeutiger Hinweis darauf,
dass das Gegenteil von Angemessenheit bevorstand. Gleichzeitig war er
immer gesprächs- und kooperationsbereit gegenüber Vertretern staatlicher
Einrichtungen, wissend, dass Staat und Gesellschaft viele Probleme nur
gemeinsam lösen können.
Wir haben einen Freund verloren, einen Menschen
voller Lebensfreude und Humor. Aber als Lehrer, der uns eine aufrechte
Haltung, Dialogfähigkeit und die Übernahme gesellschaftlicher
Verantwortung vorlebte, wird uns Boris weiter begleiten. Unser Mitgefühl
gilt seiner Witwe und seiner Tochter.
Uta Gerlant
MEMORIAL Deutschlan
Ausführliche Informationen und Materialien zu Boris Pustynzew in russischer Sprache finden Sie auf der Seite der Organisation "Bürgerkontrolle" hier.
MEMORIAL Deutschlan
Ausführliche Informationen und Materialien zu Boris Pustynzew in russischer Sprache finden Sie auf der Seite der Organisation "Bürgerkontrolle" hier.
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