Im
Allgemeinen richtet sich der laufende Prozess nicht über drei Sängerinnen der
Gruppe «Pussy Riot». Wenn es so wäre, dann hätte das, was hier abläuft, absolut
keine Bedeutung. Dieser Prozess richtet sich gegen das ganze staatliche System
der R(ussländischen) F(öderation), dem es, zu seinem eigenen Leidwesen, so
gefällt, in der Grausamkeit dem Menschen gegenüber, in der Gleichgültigkeit
gegenüber seiner Ehre und Würde, das Allerschlechteste, was überhaupt in der
russischen Geschichte geschehen ist, zu zitieren. Die Imitation des
Gerichtsprozesses nähert sich den Standards der stalinschen «Troikas» an. So
ist auch bei uns: Untersuchungsrichter, Richter, Staatsanwalt — und die politische
Bestellung von Repressionen, die die Worte, Handlungen und Entscheidungen aller
drei vorherbestimmt.
Wer
ist schuld am Auftritt in der Christus-Erlöser-Kathedrale und am folgenden
Prozess gegen uns? Das autoritäre politische System. «Pussy Riot» beschäftigt
sich mit oppositioneller Kunst oder auch mit Politik, die sich an Formen
orientiert, die von der Kunst ausgearbeitet worden sind, jedenfalls ist es eine
Form der zivilen Tätigkeit unter den Bedingungen der Unterdrückung der
grundlegenden Menschenrechte — der bürgerlichen und politischen Rechte — durch
das korporative staatliche System. Junge Leute, denen in den Nullerjahren durch
die planmäßige Vernichtung von Freiheiten unerbittlich und methodisch die Haut
abgezogen wurde, begannen den Aufstand. Wir suchten echte Aufrichtigkeit und
Einfachheit und fanden sie im heiligen Blödsinn einer Punk-Performance.
Leidenschaftlickeit,
Offenheit, Naivität sind höher als Heuchelei, Täuschung, aggressive
Wohlanständigkeit, die Verbrechen maskiert. «Die ersten Gesichter» des Staates
stehen in der Kathedrale mit richtigen Gesichtern, aber, indem sie täuschen,
sündigen sie mehr als unsereiner.
Wir
machen unsere politischen Punk-Konzerte, weil im russischen Staatssystem eine
solche Erstarrung, Verschlossenheit und Kastenhierarchie herrschen, und die
durchgeführte Politik einzig engen Gruppeninteressen untergeordnet ist, und
zwar so sehr, dass uns allein schon die russische Luft wehtut. Uns missfällt
kategorisch und zwingt uns politisch zu handeln und zu leben:
-
der Gebrauch repressiver und
militärischer Methoden zur Regulierung sozialer Prozesse; die Situation, in der
die wichtigsten politischen Einrichtungen die Disziplinarstrukturen des Staates
sind: die Sicherheitsorgane (Armee, Polizei, Geheimdienste) und entsprechende Mittel
der Sicherstellung politischer «Stabilität» (Gefängnisse, Präventivarreste,
Mechanismen der heftigen Kontrolle des Verhaltens der Bürger);
-
die erzwungene zivile Passivität
des größten Teils der Bevölkerung;
-
die volle Dominanz der Exekutive
über die Legislative und Judikative;
-
außerdem erregen uns aufrichtig:
die auf Angst und auf skandalös niedrigem Niveau aufgebaute politische Kultur,
die bewusst vom Staatssystem und seinen Helfershelfern (Patriarch Kirill:
«Orthodoxe gehen nicht auf Demonstrationen») unterstützte skandalöse Schwäche
der horizontalen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft;
-
uns missfällt die Manipulation der
öffentlichen Meinung durch das Staatssystem, die dank der heftigen Kontrolle
der überwältigenden Mehrheit der Massenmedien mit Leichtigkeit geschieht
(präzedenzlos unverschämt und durch Verdrehung von Fakten und Worten gegen
«Pussy Riot», die praktisch in allen russischen Massenmedien betrieben wurde,
mit Ausnahme einiger weniger unabhängiger).
Trotz
alledem stelle ich jetzt fest, dass, obwohl die gegebene Situation autoritär
ist und das gegenwärtige politische System autoritär ist, ich einen gewissen
Zusammenbruch beobachte, einen Zusammenbruch dieses politischen Systems im
Verhältnis zu den drei Mitgliedern der Gruppe «Pussy Riot», denn das, womit das
System gerechnet hat, hat sich zu seinem Bedauern nicht erfüllt: Uns verurteilt
nicht ganz Russland und mit jedem Tag glauben uns immer mehr Menschen, sie
glauben an uns und denken, dass wir in die Freiheit gehören und nicht hinter Gitter.
Ich sehe das an den Menschen, denen ich begegne. Ich begegne Menschen, die
dieses System repräsentieren, die in den entsprechenden Organen arbeiten, ich
sehe Menschen, die an den Orten des Freiheitsentzugs sitzen. Jeden Tag
unterstützen sie uns, wünschen uns Erfolg, schnelle Freilassung und sagen, dass
unsere politische Performance gerechtfertigt war. Mehr und mehr Menschen sagen
uns: «Am Anfang haben wir auch daran gezweifelt, ob ihr das tun dürft, aber mit
jedem Tag sehen wir, dass eure politische Geste richtig war und dass ihr die
Geschwüre dieses politischen Systems aufgerissen habt und genau auf das
Schlangennest geschlagen habt, dass sich auf euch geworfen hat, und wir...»
Diese
Menschen versuchen uns das Lesen zu erleichtern, wie sie nur können, und wir
sind ihnen dafür sehr dankbar. Wir danken all denen, die uns in der Freiheit
unterstützen, es ist eine riesige Zahl, ich weiß das, und ich weiß, dass jetzt
eine riesige Zahl an Orthodoxen sich für uns einsetzen und, zum Beispiel beim
Gericht, für uns beten, sie beten für die in Haft befindlichen Mitglieder der
Gruppe «Pussy Riot». Sie zeigen uns diese kleinen Büchlein mit einem Gebet für
die Inhaftierten. Dies beweist eines: Es gibt keine Einheitsgruppe, es gibt
keine einheitliche soziale Gruppe orthodoxer Gläubiger, wie es die Seite der
Anklage darzustellen versucht. Sie existiert nicht, und jetzt treten immer mehr
Gläubige auf die Seite von «Pussy Riot». Sie meinen, dass das, was wir gemacht
haben, keine fünf Monate Untersuchungshaft verdient, und erst recht keine drei
Jahre Freiheitsentzug, wie es der Herr Staatsanwalt möchte. Und mit jedem Tag
verstehen immer mehr (Menschen): Wenn ihr politisches System dermaßen gegen drei Mädchen zu Felde zieht,
die 30 Sekunden in der Ch(ristus)-E(rlöser)-K(athedrale) aufgetreten sind, dann
bedeutet das einfach, dass dieses politisches System die Wahrheit fürchtet,
Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit fürchtet, die wir an uns tragen. Wir
verstellen uns nicht eine Sekunde, wir haben uns nicht einen Moment in diesem Prozess
verstellt, aber die gegenerische Seite verstellt sich allzu viel, und die
Menschen fühlen das, die Menschen fühlen die Wahrheit; die Wahrheit hat
wirklich einen ontologischen seinsmäßigen Vorrang vor der Lüge, darüber steht
in der Bibel geschrieben, vor allem im Alten Testament. Die Wege der Wahrheit
siegen letztlich immer über die Wege der Hinterlist, der Tücke und der Lüge,
und mit jedem Tag siegen die Wege der Wahrheit mehr und mehr, obwohl wir
weiterhin hinter Gittern sind und, wahrscheinlich, noch eine sehr lange Zeit
bleiben werden.
Gestern
war der Auftritt von Madonna, sie trat mit der Aufschrift «Pussy Riot» auf dem
Rücken auf. Dass wir hier festgehalten werden, ist ungesetzlich und auf der
Grundlage einer vollkommen erlogenen Anklage, das sehen mehr und mehr Menschen.
Und mich begeistert das. Mich begeistert, dass die Wahrheit tatsächlich über
die Lüge triumphiert, obwohl wir körperlich hier sind; wir sind freier als
diese Leute, die uns gegenüber auf der Seite der Anklage sitzen, denn wir können
alles sagen, was wir wollen, und wir sagen alles, was wir wollen. Und die
Leute, die da sitzen, sie sagen bloß das, was ihnen die politische Zensur
erlaubt, sie können nicht solche Worte sagen wie «Punk-Gebet», «Gottesmutter,
vertreibe Putin», sie können diejenigen Zeilen aus unserem Punk-Gebet nicht
aussprechen, die das politische System betreffen. Vielleicht denken diese
Leute, es wäre nicht schlecht, uns auch dafür zu inhaftieren, dass wir gegen
Putin und sein System aufstehen. Aber sie können das nicht sagen, weil es ihnen
verboten ist. Ihre Münder sind zugenäht, leider sind sie hier nur Puppen. Ich
hoffe, dass sie dies erkennen und schließlich auch auf den Weg der Freiheit,
der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit gehen, denn all dies ist höher als Unbeweglichkeit
und aggressive Wohlanständigkeit und Heuchelei. Unbeweglichkeit und die Suche
nach Wahrheit sind immer gegensätzlich, und in diesem Prozess sehen wir
Menschen, die versuchen, irgendeine Wahrheit zu finden, versuchen die Wahrheit
zu finden, und Leute, die versuchen, diejenigen einzukerkern, die die Wahrheit
finden wollen.
Der
Mensch ist ein Wesen, das immer irrt, es ist unvollkommen, es strebt immer nach
Weisheit, aber besitzt sie nie, genau deshalb ist die Philosophie entstanden,
genau deshalb ist ein Philosoph der, welcher die Weisheit liebt und nach ihr
strebt, jedoch nie über sie verfügt, und genau das zwingt ihn dazu, zu handeln,
zu denken und zu leben eben so, wie er lebt. Und genau das hat uns gezwungen,
in die Ch(ristus)-E(rlöser)-K(athedrale) zu gehen. Und ich behaupte, dass das
Christentum — das, wie ich es aus dem Alten Testament und besonders aus dem
Neuen Testament verstanden habe, — eben gerade das Streben nach Wahrheit, die
Selbstüberwindung, die Überwendung dessen, was du früher warst, unterstützt.
Christus war nicht umsonst bei den Huren, er sagte, ich helfe denen, die einen
Fehltritt begehen, «ich verzeihe ihnen»; aber aus irgendeinem Grund sehe ich
das nicht in unserem Prozess, der unter dem Banner des Christentums
stattfindet. Mir scheint, dass die Seite der Anklage das Christentum
missachtet.
Anwälte
(der Nebenkläger) lassen die (von ihnen vertretenen) Geschädigten fallen, ich
bezeichne es genau so. Vor zwei Tagen wurde hier die Rede des Anwalts
Taratuchin laut, dass alle verstehen müssen, dass sich ein Anwalt keineswegs
mit den Leuten solidarisiert, die er vertritt. Entsprechend ist es dem Anwalt
ethisch unmöglich, diejenigen zu vertreten, die die drei Mitglieder von Pussy
Riot einsperren wollen — warum sie uns einsperren wollen, weiß ich nicht,
vielleicht haben sie das Recht dazu, —
aber ich weise nur darauf hin, dass es offenbar, aus irgendeinem Grund,
dem Anwalt peinlich wurde, und die Schreie, die an seine Adresse gerichtet
waren: «Schande, Henker», haben ihn doch
berührt, und das zeigt, dass die Wahrheit und das Gute immer über die Lüge und
das Böse triumphieren. Und außerdem scheint es mir, dass irgendwelche höheren
Kräfte die Reden der Anwälte der gegnerischen Seite lenken, wenn sie Mal für
Mal sich irren und versprechen, sie nennen uns die «Geschädigten» — das sagen praktisch alle Anwälte, auch
Anwältin Pawlowa, die uns gegenüber sehr negativ eingestellt ist, dennoch
zwingen irgendwelche höheren Kräfte sie dazu, über uns als «Geschädigte» zu
reden, nicht über diejenigen, die sie vertritt, sondern über uns.
Ich
würde gar nicht diese Etiketten aufhängen, mir scheint, hier gibt es keine
Sieger, Verlierer Geschädigte, Beschuldigte; wir müssen einfach, endlich,
Kontakt zueinander finden und den Dialog und die gemeinsame Suche nach
Wahrhaftigkeit und Wahrheit beginnen und gemeinsam nach Weisheit streben,
gemeinsam Philosophen sein, und nicht einfach einander stigmatisieren und
einander mit Etiketten behängen, das ist das allerletzte, was der Mensch tun
kann. Und Christus hat das verurteilt. Jetzt werden wir hier in diesem
Gerichtsprozess beschimpft. Wer hätte sich vorstellen können, dass der Mensch
und das von ihm kontrollierte politische System wieder und wieder fähig sind,
absolut unmotiviertes Böses zu schaffen? Wer hätte sich denken können, dass die
Geschichte, vor allem die noch nicht allzu entfernte Erfahrung des
schrecklichen, großen stalinschen Terrors, überhaupt nichts lehrt; man möchte
heulen, wenn man sieht, dass die Methoden der mittelalterlichen Inquisition
über das Rechtsschutz- und Gerichtssystem der Russländischen Föderation,
unseres Landes, herrschen. Aber seit unserer Verhaftung können wir nicht
heulen, wir haben es verlernt zu weinen, wir haben auf unseren Punk-Konzerten
so verzweifelt geschrien, wie wir konnten, über die Ungesetzlichkeiten der
Führung, der Mächtigen, doch nun hat man uns unsere Stimme geklaut. Unsere
Stimme wurde gestohlen am 3. März 2012, als wir aufgrund einer ausgedachten
Beschuldigung von der Moskauer Straffahndung unter Leitung der Mitarbeiter des
Zentrums «E» verhaftet wurden. Am nächsten Tag wurden Millionen bei den
sogenannten «Wahlen» ihrer Stimme beraubt.
Den
ganzen Prozess hindurch verweigert man, uns zu hören, genau: zu hören, zu hören
— das heißt wahrzunehmen, dabei zu denken, nach Weisheit zu streben,
Philosophen zu sein. Mir scheint, jeder Mensch muss in der Tiefe seiner Seele
danach streben, nicht nur derjenige, der die Philosophische Fakultät absolviert
hat. Die an sich formale Bildung ist nichts, und die Anwältin Pawlowa versucht
ständig uns mangelnde Bildung vorzuwerfen; für uns ist das Wichtigste das
Streben, das Streben zu wissen und zu verstehen. Das ist das, was der Mensch
selbst erhalten kann, außerhalb der Mauern einer Bildungsanstalt. Und die
Regalien, die wissenschaftlichen Ränge bedeuten in diesem Fall überhaupt
nichts. Ein Mensch kann eine riesige Menge an Wissen besitzen, aber dabei kein
Mensch sein... Pythagoras sprach davon, dass Vielwissen den Geist nicht lehrt.
Wir sind hier leider gezwungen dies festzustellen. Wir sind hier nur
Dekoration, Elemente einer unbelebten Natur, Körper, die in den Gerichtssaal
verfrachtet wurden. Wenn unsere Ansuchen nach mehrtägiggen Bitten, Zureden und
Kämpfen doch noch angeschaut werden, dann werden sie auf jeden Fall abgelehnt.
Dafür hört das Gericht zum Unglück für uns, für dieses Land, dem Staatsanwalt
zu, der Mal ums Mal ungestraft alle unsere Wörter und Äußerungen entstellt,
indem er sie nivelliert. Die Verletzung des grundlegenden Prinzips des
beiderseitigen Wettbewerbs vor Gericht wird nicht verheimlicht und ist
signifikant.
Am
30. Juli, am ersten Prozesstag, haben wir usnere Reaktion auf die
Anklageschrift vorgestellt. Die von uns geschriebenen Texte wurden von der
Verteidigerin W.W. Wolkowa verlesen, da das Gericht kategorisch verbot, den
Angeklagten das Wort zu geben. Das war seit 5 Monaten die erste Möglichkeit,
uns zu äußern. Bis dahin waren wir in Haft, im Gefängnis, von wo wir nichts
machen können, wir können keine öffentlichen Äußerungen machen, wir können im
Untersuchungsgefängnis keine Filme drehen, wir haben kein Internet, unser
Anwalt kann uns nicht einmal irgendein Papier bringen, denn selbst das ist
verboten. Am 30. Juli haben wir uns erstmals geäußert, wir riefen zum Kontakt
und zum Dialog auf, und nicht zum Kampf umd zur Konfrontation. Wir haben die
Hand denen ausgestreckt, die uns aus irgendeinem Grund als Feinde betrachten.
Als Antwort hat man uns ausgelacht, in die ausgestreckte Hand gespuckt. «Ihr
seid nicht aufrichtig», wurde uns gesagt. Vergeblich! Schließt nicht von euch
auf andere. Wir redeten wie übrigens immer aufrichtig und genau das, was wir
denken. Wir sind wahrscheinlich kindlich naiv in unserer Wahrheit. Dennoch
bereuen wir nichts von dem Gesagten, auch nicht das an deisem Tag Gesagte.
Selbst angeschwärzt, haben wir nicht vor, unsererseits anzuschwärzen. Wir sind
in einer verzweifelten Lage, aber wir verzweifeln nicht, wir sind Gejagte, aber
nicht Verlassene. Offene Menschen kann man leicht erniedrigen und vernichten,
aber wenn ich schwach bin, bin ich stark.
Hört
uns zu! Uns, und nicht (Staatsanwalt) Arkadij Mamontow über uns. Entstellt und
verdrehrt nicht alles von uns Gesagte und erlaubt uns, in Dialog und Kontakt
mit dem Land zu treten, das auch unseres ist, und nicht jur W.W. Putins und des
Patriarchen Land. Ich glaube wie Solschenizyn daran, dass das Wort im Ergebnis
den Beton zertsört. «Heißt das, das Wort ist aufrichtiger als der Beton? Heißt
das, das Wort ist keine Kleinigkeit? (…) So fangen auch gütige Menschen an zu
wachsen, und ihr Wort zerstört den Beton.» (Solshenizyn, «Im ersten Kreis der
Hölle»)
Ich,
Katja und Mascha sitzen im Gefängnis, aber ich würde nicht sagen, dass wir eine
Niederlage erlitten haben. So waren auch die Dissidenten keine Verlierer, als
sie in psychiatrischen Krankenhäusern und Gefängnissen verschwanden, sie haben
über das Regime das Urteil gefällt. Die Kunst, ein Bild der Epoche zu
entwerfen, kennt keine Gewinner und Verlierer. So blieben auch die OBERIUten
(Künstlervereinigung der 1920/30er Jahre) Künstler, echt unerklärlich und
unverständlich. Als Wwedenskij 1937 repressiert wurde, schrieb er: «Uns ist das
Unverständliche angenehm, das Unerklärliche ist unser Freund.» Der offiziellen
Todesanzeige zufolge starb Alexander Wwedenskij am 20. Dezember 1941. Der Grund
ist unbekannt — vielleicht Ruhr im Gefangenenwaggon, vielleicht die Kugel eines
Wachsoldaten. Der Ort: irgendwo an der Eisenbahn zwischen Woronesch und Kasan.
«Pussy
Riot» sind Schüler und Nachfolger Wwedenskijs. Sein Prinzip des «schlechten
Reims» ist für uns Heimat («Es kommt vor, dass mir zwei Reime in den Kopf
kommen, ein guter und ein schlechter, und ich wähle den Schlechten: eben er ist
der Richtige.»).
«Das
Unerklärliche ist unser Freund», die elitäre und verfeinerte Beschäftigung der
OBERIUten, ihre Suche nach dem Gedanken am Rande des Sinns hat sich endgültig
erfüllt, als Preis ihres Lebens, weggeschafft im sinnlosen und durch nichts
erklärbaren großen Terror. Durch den Preis ihrer Leben haben die OBERIUten
unfreiwillig bewiesen, dass ihre Empfindung der Sinnlosigkeit und der Alogik
als roter Faden der Epoche richtig war. Dadurch brachten sie das Künstlerische
auf die historische Ebene. Der Preis der Teilnahme an der Erschaffung der
Geschichte ist immer äußerst hoch für den einzelnen Menschen, aber eben in
dieser Teilnahme ist das Salz der menschlichen Existenz. Elend arm zu sein,
aber viele bereichern, nichts besitzen, aber über alles verfügen. Die
Dissidenten und die OBERIUten gelten als tot, aber sie leben, sie werden
bestraft, aber sie sterben nicht.
Erinnern
Sie sich, wofür Dostojewskij zum Tode verurteilt wurde? Seine ganze Schuld
bestand darin, dass er sich mit den Theorien des Sozialismus beschäftigte, in
Versammlungen eines Freundeskreises von Freidenkern, der sich freitags in der
Wohnung von Petraschewskij traf, die Werke von Fourier und Georges Sand
diskutierte und an einem der letzten «Freitage» einen Brief Belinskijs an Gogol
vorlas, der laut Aussage des Gerichts angefüllt war mit (Achtung!) «frechen
Äußerungen über die Orthodoxe Kirche und die Obrigkeit». Nach allen
Vorbereitungen zur Todesstrafe, nach «zehn schrecklichen, unwahrscheinlich
schrecklichen Minuten der Erwartung des Todes» (Dostojewskij) wurde ihm die
Änderung des Urteils in vier Jahre Zwangsarbeit mit darauffolgender Ableistung
des Wehrdienstes in der Armee mitgeteilt.
Sokrates
wurde der «Verführung der Jugend» durch seine philosophischen Gespräche sowie
der Nichtanerkennung der athenischen Götter angeklagt. Sokrates verfügte über
eine Verbindung zu der inneren göttlichen Stimme, er war kein Atheist, wie er
mehrfach versicherte. Aber für wen spielte das eine Rolle, wo er doch die
einflussreichen Einwohner der Stadt schnell mit seinen kritischen,
dialektischen, vorurteilsfreien Überlegungen reizte? Sokrates wurde zum Tode
verurteilt und — nachdem er die Flucht ablehnte, die ihm seine Schüler
vorschlugen, — trank kaltblütig den Giftbecher und starb.
Und
haben Sie nicht vergessen, unter welchen Umständen Stephanus, ein Anhänger der
Apostel, seinen irdischen Weg beendete? «Da stifteten sie einige an, die
sagten: Wir haben ihn Lästerreden gegen Moses und Gott führen hören. Und sie
reizten das Volk und die Ältesten und die Schriftgelehrten auf und traten auf
ihn zu, rissen ihn mit sich fort und führten ihn zum Hohen Rat. Und sie
stellten falsche Zeugen auf, die aussagten: Dieser Mensch hört nicht auf,
Lästerreden wider die heilige Stätte und das Gesetz zu führen.»
(Apostelgeschichte 6, 11-13) Stephanus wurde für schuldig befunden und
gesteinigt.
Außerdem
wage ich zu hoffen, dass alle sich gut daran erinnern, wie die Juden zu
Christus sprachen: «Nicht wegen eines guten Werkes wollen wir dich steinigen,
sondern wegen einer (Gottes)Lästerung.» (Johannes-Evangelium 10, 33) Und
zuletzt lohnt es sich, folgende Charakterisierung Jesu Christi durch die Juden
im Kopf zu behalten: «Er ist besessen von einem bösen Geist und tobt.»
Wenn
die (Staats-)Führung, die Zaren, Präsidenten und Premierminister, das Volk und
die Richter gut wüssten und verstünden, was «Gnade möchte ich, keine Opfer»
bedeutet, dann würden sie keine Unschuldigen verurteilen.
Unsere
Staatsführung jedoch beeilt sich mit Verurteilungen, nicht mit Gnade. Übrigens,
danke, D.A. Medwedjew, für einen weiteren bemerkenswerten Aphorismus. Wenn er
seine Präsidentschaftszeit mit der Losung «Freiheit ist besser als Unfreiheit»
begann, so gibt es dank des treffenden Wortes Medwedjews gute Chancen, die
dritte putinsche Amtszeit unter dem Zeichen eines neuen Aphorismus' zu
durchschreiten: «Gefängnis ist besser als Steinigung.»
Ich
bitte darum, folgenden Gedanken des Philosophen Montaigne gut zu durchdenken,
der im 17. Jahrhundert seine «Essais» schrieb, eine Predigt der Toleranz und
eine skeptische Ablehnung jeden einseitigen Systems und jeder einseitigen
Doktrin: «Man muss seine eigenen Annahmen allzu hoch setzen, um ihretwegen die
Verbrennung von lebenden Menschen zu erlauben.» Und soll man lebende Menschen
verurteilen, ins Gefängnis setzen, bloß aufgrund von Annahmen der Anklage, die
faktisch in nichts begründet sind? Denn tatsächlich hegten und hegen wir keinen
religiösen Hass oder religiöse Feindschaft; unseren Anklägern bleibt nichts
anderes übrig, als zu falschen Zeugen Zuflucht zu nehmen. Eine von ihnen,
Motilda Sigismundowna Iwaschenko, wurde es peinlich und sie erschien nicht vor
Gericht. Es blieben die falschen Zeugnisse der Herren Troizki und Ponkin sowie
der Frau Abramenkowa. Und weitere «Beweise» unseres Hasses und unserer
Feindschaft gibt es nicht, außer eine sogenannte Expertise, die das Gericht,
wenn es ehrlich und gerecht ist, als für die Beweisaufnahme unbrauchbar
beurteilen muss, da es kein wissenschaftlicher, strenger, objektiver Text ist,
sondern ein schmutziges und lügenhaftes Papierchen aus den Zeiten der
mittelalterlichen Inquisition. Andere Beweise, wenigstens über die Existenz
eines Motivs, gibt es nicht. Auszüge aus den Texten und Interviews von «Pussy
Riot» traut sich die Anklage nicht heranzuziehen, das sie ein Beweis des
Nichtvorhandenseins eines Motivs wären. Warum kam von Seiten der Anklage nicht
folgender Text von «Pussy Riot» zur Sprache, der sich übrigens in der
Anklageschrift befindet: «Wir achten die Religion und besonders die Orthodoxie,
gerade weil es uns aufregt, wie die große und helle Philosophie des
Christentums so schmutzig verwendet wird. Uns wird davon schlecht, dass das Wunderbarste
jetzt missbraucht wird» — so heißt es im Interview, das Pussy Riot der
Zeitschrft «Russischer Reporter» (Abruf im Internet am 27. Februar 2012) gab.
Uns wird noch immer davon schlecht und es tut uns wirklich weh, all das zu
sehen.
Das
Fehlen jeglichen Ausdrucks von Hass und Feindschaft gegenüber Religion und
Gläubigen von unserer Seite bezeugen alle befragten Zeugen der Verteidigung,
die Angaben zu uns gemacht haben. Neben allen weiteren Charakteristiken möchte
ich hinweisen auf die Resultate der psychologisch-psychiatrischen Expertise,
die mit mir auf Antrag der Untersuchung im Untersuchungsgefängnis 6
durchgeführt wurde. Die Experten haben Folgendes gezeigt: Die Werte, denen ich
im Leben anhänge, sind «Gerechtigkeit, gegenseitige Achtung, Menschlichkeit,
Gerechtigkeit, Freiheit». Das sagte ein Experte, das war ein Mensch, der mich
nicht kennt, und wahrscheinlich hätte Untersuchungsrichter Rawtschenko es gern
gehabt, dass der Experte etwas anderes geschrieben hätte, aber offensichtlich
gibt es mehr Leute, die trotz allem die Wahrheit höher lieben und schätzen. Und
die Bibel hat damit Recht. Weder in mir, noch in (Maria) Aljochina oder
(Jekaterina) Samuzewitsch wurden starke und penetrante Affekte oder andere
psychologische Werte nachgewiesen, aus denen man Hass oder Feindschaft gegen
jemanden oder etwas ableiten könnte.
Also:
«Öffnet die Türen, nehmt die Schulterklappen ab,
Spürt mit uns den Geruch der Freiheit!»
(Pussy
Riot, «Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest»)
Übersetzung:
Andreas Decker, München
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