Dienstag, 21. August 2012

"Pussy Riot": Schlusswort von Nadja Tolokonnikova am 8.8.2012 vor Gericht


Im Allgemeinen richtet sich der laufende Prozess nicht über drei Sängerinnen der Gruppe «Pussy Riot». Wenn es so wäre, dann hätte das, was hier abläuft, absolut keine Bedeutung. Dieser Prozess richtet sich gegen das ganze staatliche System der R(ussländischen) F(öderation), dem es, zu seinem eigenen Leidwesen, so gefällt, in der Grausamkeit dem Menschen gegenüber, in der Gleichgültigkeit gegenüber seiner Ehre und Würde, das Allerschlechteste, was überhaupt in der russischen Geschichte geschehen ist, zu zitieren. Die Imitation des Gerichtsprozesses nähert sich den Standards der stalinschen «Troikas» an. So ist auch bei uns: Untersuchungsrichter, Richter, Staatsanwalt — und die politische Bestellung von Repressionen, die die Worte, Handlungen und Entscheidungen aller drei vorherbestimmt.
Wer ist schuld am Auftritt in der Christus-Erlöser-Kathedrale und am folgenden Prozess gegen uns? Das autoritäre politische System. «Pussy Riot» beschäftigt sich mit oppositioneller Kunst oder auch mit Politik, die sich an Formen orientiert, die von der Kunst ausgearbeitet worden sind, jedenfalls ist es eine Form der zivilen Tätigkeit unter den Bedingungen der Unterdrückung der grundlegenden Menschenrechte — der bürgerlichen und politischen Rechte — durch das korporative staatliche System. Junge Leute, denen in den Nullerjahren durch die planmäßige Vernichtung von Freiheiten unerbittlich und methodisch die Haut abgezogen wurde, begannen den Aufstand. Wir suchten echte Aufrichtigkeit und Einfachheit und fanden sie im heiligen Blödsinn einer Punk-Performance.
Leidenschaftlickeit, Offenheit, Naivität sind höher als Heuchelei, Täuschung, aggressive Wohlanständigkeit, die Verbrechen maskiert. «Die ersten Gesichter» des Staates stehen in der Kathedrale mit richtigen Gesichtern, aber, indem sie täuschen, sündigen sie mehr als unsereiner.

Wir machen unsere politischen Punk-Konzerte, weil im russischen Staatssystem eine solche Erstarrung, Verschlossenheit und Kastenhierarchie herrschen, und die durchgeführte Politik einzig engen Gruppeninteressen untergeordnet ist, und zwar so sehr, dass uns allein schon die russische Luft wehtut. Uns missfällt kategorisch und zwingt uns politisch zu handeln und zu leben:
-       der Gebrauch repressiver und militärischer Methoden zur Regulierung sozialer Prozesse; die Situation, in der die wichtigsten politischen Einrichtungen die Disziplinarstrukturen des Staates sind: die Sicherheitsorgane (Armee, Polizei, Geheimdienste) und entsprechende Mittel der Sicherstellung politischer «Stabilität» (Gefängnisse, Präventivarreste, Mechanismen der heftigen Kontrolle des Verhaltens der Bürger);
-       die erzwungene zivile Passivität des größten Teils der Bevölkerung;
-       die volle Dominanz der Exekutive über die Legislative und Judikative;
-       außerdem erregen uns aufrichtig: die auf Angst und auf skandalös niedrigem Niveau aufgebaute politische Kultur, die bewusst vom Staatssystem und seinen Helfershelfern (Patriarch Kirill: «Orthodoxe gehen nicht auf Demonstrationen») unterstützte skandalöse Schwäche der horizontalen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft;
-       uns missfällt die Manipulation der öffentlichen Meinung durch das Staatssystem, die dank der heftigen Kontrolle der überwältigenden Mehrheit der Massenmedien mit Leichtigkeit geschieht (präzedenzlos unverschämt und durch Verdrehung von Fakten und Worten gegen «Pussy Riot», die praktisch in allen russischen Massenmedien betrieben wurde, mit Ausnahme einiger weniger unabhängiger).
Trotz alledem stelle ich jetzt fest, dass, obwohl die gegebene Situation autoritär ist und das gegenwärtige politische System autoritär ist, ich einen gewissen Zusammenbruch beobachte, einen Zusammenbruch dieses politischen Systems im Verhältnis zu den drei Mitgliedern der Gruppe «Pussy Riot», denn das, womit das System gerechnet hat, hat sich zu seinem Bedauern nicht erfüllt: Uns verurteilt nicht ganz Russland und mit jedem Tag glauben uns immer mehr Menschen, sie glauben an uns und denken, dass wir in die Freiheit gehören und nicht hinter Gitter. Ich sehe das an den Menschen, denen ich begegne. Ich begegne Menschen, die dieses System repräsentieren, die in den entsprechenden Organen arbeiten, ich sehe Menschen, die an den Orten des Freiheitsentzugs sitzen. Jeden Tag unterstützen sie uns, wünschen uns Erfolg, schnelle Freilassung und sagen, dass unsere politische Performance gerechtfertigt war. Mehr und mehr Menschen sagen uns: «Am Anfang haben wir auch daran gezweifelt, ob ihr das tun dürft, aber mit jedem Tag sehen wir, dass eure politische Geste richtig war und dass ihr die Geschwüre dieses politischen Systems aufgerissen habt und genau auf das Schlangennest geschlagen habt, dass sich auf euch geworfen hat, und wir...»
Diese Menschen versuchen uns das Lesen zu erleichtern, wie sie nur können, und wir sind ihnen dafür sehr dankbar. Wir danken all denen, die uns in der Freiheit unterstützen, es ist eine riesige Zahl, ich weiß das, und ich weiß, dass jetzt eine riesige Zahl an Orthodoxen sich für uns einsetzen und, zum Beispiel beim Gericht, für uns beten, sie beten für die in Haft befindlichen Mitglieder der Gruppe «Pussy Riot». Sie zeigen uns diese kleinen Büchlein mit einem Gebet für die Inhaftierten. Dies beweist eines: Es gibt keine Einheitsgruppe, es gibt keine einheitliche soziale Gruppe orthodoxer Gläubiger, wie es die Seite der Anklage darzustellen versucht. Sie existiert nicht, und jetzt treten immer mehr Gläubige auf die Seite von «Pussy Riot». Sie meinen, dass das, was wir gemacht haben, keine fünf Monate Untersuchungshaft verdient, und erst recht keine drei Jahre Freiheitsentzug, wie es der Herr Staatsanwalt möchte. Und mit jedem Tag verstehen immer mehr (Menschen): Wenn ihr politisches System  dermaßen gegen drei Mädchen zu Felde zieht, die 30 Sekunden in der Ch(ristus)-E(rlöser)-K(athedrale) aufgetreten sind, dann bedeutet das einfach, dass dieses politisches System die Wahrheit fürchtet, Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit fürchtet, die wir an uns tragen. Wir verstellen uns nicht eine Sekunde, wir haben uns nicht einen Moment in diesem Prozess verstellt, aber die gegenerische Seite verstellt sich allzu viel, und die Menschen fühlen das, die Menschen fühlen die Wahrheit; die Wahrheit hat wirklich einen ontologischen seinsmäßigen Vorrang vor der Lüge, darüber steht in der Bibel geschrieben, vor allem im Alten Testament. Die Wege der Wahrheit siegen letztlich immer über die Wege der Hinterlist, der Tücke und der Lüge, und mit jedem Tag siegen die Wege der Wahrheit mehr und mehr, obwohl wir weiterhin hinter Gittern sind und, wahrscheinlich, noch eine sehr lange Zeit bleiben werden.
Gestern war der Auftritt von Madonna, sie trat mit der Aufschrift «Pussy Riot» auf dem Rücken auf. Dass wir hier festgehalten werden, ist ungesetzlich und auf der Grundlage einer vollkommen erlogenen Anklage, das sehen mehr und mehr Menschen. Und mich begeistert das. Mich begeistert, dass die Wahrheit tatsächlich über die Lüge triumphiert, obwohl wir körperlich hier sind; wir sind freier als diese Leute, die uns gegenüber auf der Seite der Anklage sitzen, denn wir können alles sagen, was wir wollen, und wir sagen alles, was wir wollen. Und die Leute, die da sitzen, sie sagen bloß das, was ihnen die politische Zensur erlaubt, sie können nicht solche Worte sagen wie «Punk-Gebet», «Gottesmutter, vertreibe Putin», sie können diejenigen Zeilen aus unserem Punk-Gebet nicht aussprechen, die das politische System betreffen. Vielleicht denken diese Leute, es wäre nicht schlecht, uns auch dafür zu inhaftieren, dass wir gegen Putin und sein System aufstehen. Aber sie können das nicht sagen, weil es ihnen verboten ist. Ihre Münder sind zugenäht, leider sind sie hier nur Puppen. Ich hoffe, dass sie dies erkennen und schließlich auch auf den Weg der Freiheit, der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit gehen, denn all dies ist höher als Unbeweglichkeit und aggressive Wohlanständigkeit und Heuchelei. Unbeweglichkeit und die Suche nach Wahrheit sind immer gegensätzlich, und in diesem Prozess sehen wir Menschen, die versuchen, irgendeine Wahrheit zu finden, versuchen die Wahrheit zu finden, und Leute, die versuchen, diejenigen einzukerkern, die die Wahrheit finden wollen.
Der Mensch ist ein Wesen, das immer irrt, es ist unvollkommen, es strebt immer nach Weisheit, aber besitzt sie nie, genau deshalb ist die Philosophie entstanden, genau deshalb ist ein Philosoph der, welcher die Weisheit liebt und nach ihr strebt, jedoch nie über sie verfügt, und genau das zwingt ihn dazu, zu handeln, zu denken und zu leben eben so, wie er lebt. Und genau das hat uns gezwungen, in die Ch(ristus)-E(rlöser)-K(athedrale) zu gehen. Und ich behaupte, dass das Christentum — das, wie ich es aus dem Alten Testament und besonders aus dem Neuen Testament verstanden habe, — eben gerade das Streben nach Wahrheit, die Selbstüberwindung, die Überwendung dessen, was du früher warst, unterstützt. Christus war nicht umsonst bei den Huren, er sagte, ich helfe denen, die einen Fehltritt begehen, «ich verzeihe ihnen»; aber aus irgendeinem Grund sehe ich das nicht in unserem Prozess, der unter dem Banner des Christentums stattfindet. Mir scheint, dass die Seite der Anklage das Christentum missachtet.
Anwälte (der Nebenkläger) lassen die (von ihnen vertretenen) Geschädigten fallen, ich bezeichne es genau so. Vor zwei Tagen wurde hier die Rede des Anwalts Taratuchin laut, dass alle verstehen müssen, dass sich ein Anwalt keineswegs mit den Leuten solidarisiert, die er vertritt. Entsprechend ist es dem Anwalt ethisch unmöglich, diejenigen zu vertreten, die die drei Mitglieder von Pussy Riot einsperren wollen — warum sie uns einsperren wollen, weiß ich nicht, vielleicht haben sie das Recht dazu, —  aber ich weise nur darauf hin, dass es offenbar, aus irgendeinem Grund, dem Anwalt peinlich wurde, und die Schreie, die an seine Adresse gerichtet waren: «Schande, Henker»,  haben ihn doch berührt, und das zeigt, dass die Wahrheit und das Gute immer über die Lüge und das Böse triumphieren. Und außerdem scheint es mir, dass irgendwelche höheren Kräfte die Reden der Anwälte der gegnerischen Seite lenken, wenn sie Mal für Mal sich irren und versprechen, sie nennen uns die «Geschädigten»  — das sagen praktisch alle Anwälte, auch Anwältin Pawlowa, die uns gegenüber sehr negativ eingestellt ist, dennoch zwingen irgendwelche höheren Kräfte sie dazu, über uns als «Geschädigte» zu reden, nicht über diejenigen, die sie vertritt, sondern über uns.
Ich würde gar nicht diese Etiketten aufhängen, mir scheint, hier gibt es keine Sieger, Verlierer Geschädigte, Beschuldigte; wir müssen einfach, endlich, Kontakt zueinander finden und den Dialog und die gemeinsame Suche nach Wahrhaftigkeit und Wahrheit beginnen und gemeinsam nach Weisheit streben, gemeinsam Philosophen sein, und nicht einfach einander stigmatisieren und einander mit Etiketten behängen, das ist das allerletzte, was der Mensch tun kann. Und Christus hat das verurteilt. Jetzt werden wir hier in diesem Gerichtsprozess beschimpft. Wer hätte sich vorstellen können, dass der Mensch und das von ihm kontrollierte politische System wieder und wieder fähig sind, absolut unmotiviertes Böses zu schaffen? Wer hätte sich denken können, dass die Geschichte, vor allem die noch nicht allzu entfernte Erfahrung des schrecklichen, großen stalinschen Terrors, überhaupt nichts lehrt; man möchte heulen, wenn man sieht, dass die Methoden der mittelalterlichen Inquisition über das Rechtsschutz- und Gerichtssystem der Russländischen Föderation, unseres Landes, herrschen. Aber seit unserer Verhaftung können wir nicht heulen, wir haben es verlernt zu weinen, wir haben auf unseren Punk-Konzerten so verzweifelt geschrien, wie wir konnten, über die Ungesetzlichkeiten der Führung, der Mächtigen, doch nun hat man uns unsere Stimme geklaut. Unsere Stimme wurde gestohlen am 3. März 2012, als wir aufgrund einer ausgedachten Beschuldigung von der Moskauer Straffahndung unter Leitung der Mitarbeiter des Zentrums «E» verhaftet wurden. Am nächsten Tag wurden Millionen bei den sogenannten «Wahlen» ihrer Stimme beraubt.
Den ganzen Prozess hindurch verweigert man, uns zu hören, genau: zu hören, zu hören — das heißt wahrzunehmen, dabei zu denken, nach Weisheit zu streben, Philosophen zu sein. Mir scheint, jeder Mensch muss in der Tiefe seiner Seele danach streben, nicht nur derjenige, der die Philosophische Fakultät absolviert hat. Die an sich formale Bildung ist nichts, und die Anwältin Pawlowa versucht ständig uns mangelnde Bildung vorzuwerfen; für uns ist das Wichtigste das Streben, das Streben zu wissen und zu verstehen. Das ist das, was der Mensch selbst erhalten kann, außerhalb der Mauern einer Bildungsanstalt. Und die Regalien, die wissenschaftlichen Ränge bedeuten in diesem Fall überhaupt nichts. Ein Mensch kann eine riesige Menge an Wissen besitzen, aber dabei kein Mensch sein... Pythagoras sprach davon, dass Vielwissen den Geist nicht lehrt. Wir sind hier leider gezwungen dies festzustellen. Wir sind hier nur Dekoration, Elemente einer unbelebten Natur, Körper, die in den Gerichtssaal verfrachtet wurden. Wenn unsere Ansuchen nach mehrtägiggen Bitten, Zureden und Kämpfen doch noch angeschaut werden, dann werden sie auf jeden Fall abgelehnt. Dafür hört das Gericht zum Unglück für uns, für dieses Land, dem Staatsanwalt zu, der Mal ums Mal ungestraft alle unsere Wörter und Äußerungen entstellt, indem er sie nivelliert. Die Verletzung des grundlegenden Prinzips des beiderseitigen Wettbewerbs vor Gericht wird nicht verheimlicht und ist signifikant.
Am 30. Juli, am ersten Prozesstag, haben wir usnere Reaktion auf die Anklageschrift vorgestellt. Die von uns geschriebenen Texte wurden von der Verteidigerin W.W. Wolkowa verlesen, da das Gericht kategorisch verbot, den Angeklagten das Wort zu geben. Das war seit 5 Monaten die erste Möglichkeit, uns zu äußern. Bis dahin waren wir in Haft, im Gefängnis, von wo wir nichts machen können, wir können keine öffentlichen Äußerungen machen, wir können im Untersuchungsgefängnis keine Filme drehen, wir haben kein Internet, unser Anwalt kann uns nicht einmal irgendein Papier bringen, denn selbst das ist verboten. Am 30. Juli haben wir uns erstmals geäußert, wir riefen zum Kontakt und zum Dialog auf, und nicht zum Kampf umd zur Konfrontation. Wir haben die Hand denen ausgestreckt, die uns aus irgendeinem Grund als Feinde betrachten. Als Antwort hat man uns ausgelacht, in die ausgestreckte Hand gespuckt. «Ihr seid nicht aufrichtig», wurde uns gesagt. Vergeblich! Schließt nicht von euch auf andere. Wir redeten wie übrigens immer aufrichtig und genau das, was wir denken. Wir sind wahrscheinlich kindlich naiv in unserer Wahrheit. Dennoch bereuen wir nichts von dem Gesagten, auch nicht das an deisem Tag Gesagte. Selbst angeschwärzt, haben wir nicht vor, unsererseits anzuschwärzen. Wir sind in einer verzweifelten Lage, aber wir verzweifeln nicht, wir sind Gejagte, aber nicht Verlassene. Offene Menschen kann man leicht erniedrigen und vernichten, aber wenn ich schwach bin, bin ich stark.
Hört uns zu! Uns, und nicht (Staatsanwalt) Arkadij Mamontow über uns. Entstellt und verdrehrt nicht alles von uns Gesagte und erlaubt uns, in Dialog und Kontakt mit dem Land zu treten, das auch unseres ist, und nicht jur W.W. Putins und des Patriarchen Land. Ich glaube wie Solschenizyn daran, dass das Wort im Ergebnis den Beton zertsört. «Heißt das, das Wort ist aufrichtiger als der Beton? Heißt das, das Wort ist keine Kleinigkeit? (…) So fangen auch gütige Menschen an zu wachsen, und ihr Wort zerstört den Beton.» (Solshenizyn, «Im ersten Kreis der Hölle»)
Ich, Katja und Mascha sitzen im Gefängnis, aber ich würde nicht sagen, dass wir eine Niederlage erlitten haben. So waren auch die Dissidenten keine Verlierer, als sie in psychiatrischen Krankenhäusern und Gefängnissen verschwanden, sie haben über das Regime das Urteil gefällt. Die Kunst, ein Bild der Epoche zu entwerfen, kennt keine Gewinner und Verlierer. So blieben auch die OBERIUten (Künstlervereinigung der 1920/30er Jahre) Künstler, echt unerklärlich und unverständlich. Als Wwedenskij 1937 repressiert wurde, schrieb er: «Uns ist das Unverständliche angenehm, das Unerklärliche ist unser Freund.» Der offiziellen Todesanzeige zufolge starb Alexander Wwedenskij am 20. Dezember 1941. Der Grund ist unbekannt — vielleicht Ruhr im Gefangenenwaggon, vielleicht die Kugel eines Wachsoldaten. Der Ort: irgendwo an der Eisenbahn zwischen Woronesch und Kasan.
«Pussy Riot» sind Schüler und Nachfolger Wwedenskijs. Sein Prinzip des «schlechten Reims» ist für uns Heimat («Es kommt vor, dass mir zwei Reime in den Kopf kommen, ein guter und ein schlechter, und ich wähle den Schlechten: eben er ist der Richtige.»).
«Das Unerklärliche ist unser Freund», die elitäre und verfeinerte Beschäftigung der OBERIUten, ihre Suche nach dem Gedanken am Rande des Sinns hat sich endgültig erfüllt, als Preis ihres Lebens, weggeschafft im sinnlosen und durch nichts erklärbaren großen Terror. Durch den Preis ihrer Leben haben die OBERIUten unfreiwillig bewiesen, dass ihre Empfindung der Sinnlosigkeit und der Alogik als roter Faden der Epoche richtig war. Dadurch brachten sie das Künstlerische auf die historische Ebene. Der Preis der Teilnahme an der Erschaffung der Geschichte ist immer äußerst hoch für den einzelnen Menschen, aber eben in dieser Teilnahme ist das Salz der menschlichen Existenz. Elend arm zu sein, aber viele bereichern, nichts besitzen, aber über alles verfügen. Die Dissidenten und die OBERIUten gelten als tot, aber sie leben, sie werden bestraft, aber sie sterben nicht.
Erinnern Sie sich, wofür Dostojewskij zum Tode verurteilt wurde? Seine ganze Schuld bestand darin, dass er sich mit den Theorien des Sozialismus beschäftigte, in Versammlungen eines Freundeskreises von Freidenkern, der sich freitags in der Wohnung von Petraschewskij traf, die Werke von Fourier und Georges Sand diskutierte und an einem der letzten «Freitage» einen Brief Belinskijs an Gogol vorlas, der laut Aussage des Gerichts angefüllt war mit (Achtung!) «frechen Äußerungen über die Orthodoxe Kirche und die Obrigkeit». Nach allen Vorbereitungen zur Todesstrafe, nach «zehn schrecklichen, unwahrscheinlich schrecklichen Minuten der Erwartung des Todes» (Dostojewskij) wurde ihm die Änderung des Urteils in vier Jahre Zwangsarbeit mit darauffolgender Ableistung des Wehrdienstes in der Armee mitgeteilt.
Sokrates wurde der «Verführung der Jugend» durch seine philosophischen Gespräche sowie der Nichtanerkennung der athenischen Götter angeklagt. Sokrates verfügte über eine Verbindung zu der inneren göttlichen Stimme, er war kein Atheist, wie er mehrfach versicherte. Aber für wen spielte das eine Rolle, wo er doch die einflussreichen Einwohner der Stadt schnell mit seinen kritischen, dialektischen, vorurteilsfreien Überlegungen reizte? Sokrates wurde zum Tode verurteilt und — nachdem er die Flucht ablehnte, die ihm seine Schüler vorschlugen, — trank kaltblütig den Giftbecher und starb.
Und haben Sie nicht vergessen, unter welchen Umständen Stephanus, ein Anhänger der Apostel, seinen irdischen Weg beendete? «Da stifteten sie einige an, die sagten: Wir haben ihn Lästerreden gegen Moses und Gott führen hören. Und sie reizten das Volk und die Ältesten und die Schriftgelehrten auf und traten auf ihn zu, rissen ihn mit sich fort und führten ihn zum Hohen Rat. Und sie stellten falsche Zeugen auf, die aussagten: Dieser Mensch hört nicht auf, Lästerreden wider die heilige Stätte und das Gesetz zu führen.» (Apostelgeschichte 6, 11-13) Stephanus wurde für schuldig befunden und gesteinigt.
Außerdem wage ich zu hoffen, dass alle sich gut daran erinnern, wie die Juden zu Christus sprachen: «Nicht wegen eines guten Werkes wollen wir dich steinigen, sondern wegen einer (Gottes)Lästerung.» (Johannes-Evangelium 10, 33) Und zuletzt lohnt es sich, folgende Charakterisierung Jesu Christi durch die Juden im Kopf zu behalten: «Er ist besessen von einem bösen Geist und tobt.»
Wenn die (Staats-)Führung, die Zaren, Präsidenten und Premierminister, das Volk und die Richter gut wüssten und verstünden, was «Gnade möchte ich, keine Opfer» bedeutet, dann würden sie keine Unschuldigen verurteilen.
Unsere Staatsführung jedoch beeilt sich mit Verurteilungen, nicht mit Gnade. Übrigens, danke, D.A. Medwedjew, für einen weiteren bemerkenswerten Aphorismus. Wenn er seine Präsidentschaftszeit mit der Losung «Freiheit ist besser als Unfreiheit» begann, so gibt es dank des treffenden Wortes Medwedjews gute Chancen, die dritte putinsche Amtszeit unter dem Zeichen eines neuen Aphorismus' zu durchschreiten: «Gefängnis ist besser als Steinigung.»
Ich bitte darum, folgenden Gedanken des Philosophen Montaigne gut zu durchdenken, der im 17. Jahrhundert seine «Essais» schrieb, eine Predigt der Toleranz und eine skeptische Ablehnung jeden einseitigen Systems und jeder einseitigen Doktrin: «Man muss seine eigenen Annahmen allzu hoch setzen, um ihretwegen die Verbrennung von lebenden Menschen zu erlauben.» Und soll man lebende Menschen verurteilen, ins Gefängnis setzen, bloß aufgrund von Annahmen der Anklage, die faktisch in nichts begründet sind? Denn tatsächlich hegten und hegen wir keinen religiösen Hass oder religiöse Feindschaft; unseren Anklägern bleibt nichts anderes übrig, als zu falschen Zeugen Zuflucht zu nehmen. Eine von ihnen, Motilda Sigismundowna Iwaschenko, wurde es peinlich und sie erschien nicht vor Gericht. Es blieben die falschen Zeugnisse der Herren Troizki und Ponkin sowie der Frau Abramenkowa. Und weitere «Beweise» unseres Hasses und unserer Feindschaft gibt es nicht, außer eine sogenannte Expertise, die das Gericht, wenn es ehrlich und gerecht ist, als für die Beweisaufnahme unbrauchbar beurteilen muss, da es kein wissenschaftlicher, strenger, objektiver Text ist, sondern ein schmutziges und lügenhaftes Papierchen aus den Zeiten der mittelalterlichen Inquisition. Andere Beweise, wenigstens über die Existenz eines Motivs, gibt es nicht. Auszüge aus den Texten und Interviews von «Pussy Riot» traut sich die Anklage nicht heranzuziehen, das sie ein Beweis des Nichtvorhandenseins eines Motivs wären. Warum kam von Seiten der Anklage nicht folgender Text von «Pussy Riot» zur Sprache, der sich übrigens in der Anklageschrift befindet: «Wir achten die Religion und besonders die Orthodoxie, gerade weil es uns aufregt, wie die große und helle Philosophie des Christentums so schmutzig verwendet wird. Uns wird davon schlecht, dass das Wunderbarste jetzt missbraucht wird» — so heißt es im Interview, das Pussy Riot der Zeitschrft «Russischer Reporter» (Abruf im Internet am 27. Februar 2012) gab. Uns wird noch immer davon schlecht und es tut uns wirklich weh, all das zu sehen.
Das Fehlen jeglichen Ausdrucks von Hass und Feindschaft gegenüber Religion und Gläubigen von unserer Seite bezeugen alle befragten Zeugen der Verteidigung, die Angaben zu uns gemacht haben. Neben allen weiteren Charakteristiken möchte ich hinweisen auf die Resultate der psychologisch-psychiatrischen Expertise, die mit mir auf Antrag der Untersuchung im Untersuchungsgefängnis 6 durchgeführt wurde. Die Experten haben Folgendes gezeigt: Die Werte, denen ich im Leben anhänge, sind «Gerechtigkeit, gegenseitige Achtung, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit». Das sagte ein Experte, das war ein Mensch, der mich nicht kennt, und wahrscheinlich hätte Untersuchungsrichter Rawtschenko es gern gehabt, dass der Experte etwas anderes geschrieben hätte, aber offensichtlich gibt es mehr Leute, die trotz allem die Wahrheit höher lieben und schätzen. Und die Bibel hat damit Recht. Weder in mir, noch in (Maria) Aljochina oder (Jekaterina) Samuzewitsch wurden starke und penetrante Affekte oder andere psychologische Werte nachgewiesen, aus denen man Hass oder Feindschaft gegen jemanden oder etwas ableiten könnte.
Also:

«Öffnet die Türen, nehmt die Schulterklappen ab,
Spürt mit uns den Geruch der Freiheit!»
(Pussy Riot, «Tod dem Gefängnis, Freiheit dem Protest»)

Übersetzung: Andreas Decker, München

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