Stellungnahme von Arsenij Roginskij
Am 15. August hat die russische Regierung eine
elfseitige staatliche „Konzeption zur Bewahrung des Gedenkens an die
Opfer politischer Verfolgungen“ beschlossen.
Darin heißt es ausdrücklich, dass Russland „kein Rechtsstaat im vollen
Sinne werden und keine führende Rolle in der Weltgemeinschaft einnehmen
kann, wenn es nicht das Gedenken an die vielen Millionen seiner Bürger
bewahrt, die politischen Verfolgungen zum Opfer gefallen sind.“
Sie enthält u. a. einen Maßnahmeplan für die Zeit
bis 2020. Vor allem geht es um Forschungs- und Aufklärungsprogramme,
Aufstellung von Gedenkzeichen, Einrichtung von Gedenkstätten sowie den
Zugang zu Archiven (entsprechend der gesetzlichen Vorschriften).
Die Reaktionen darauf sind geteilt. Kritisiert wurde vor allem, dass die Konzeption weitgehend unkonkret und unverbindlich bleibe und beispielsweise keinerlei soziale Unterstützung für ehemalige politische Häftlinge vorsehe.
Hier folgt die Stellungnahme von Arsenij Roginskij, dem Vorsitzenden von MEMORIAL International:
„Soweit ich sehe, wird hier erstmals seit dem
Rehabilitierungsgesetz von 1991 in einem offiziellen Regierungsdokument
festgehalten, welche Stellung der Staat zum sowjetischen politischen
Terror einnimmt - nämlich eine eindeutig negative, wenn man dem Text
glauben will.
Diese Konzeption steht nicht im Einklang mit der
Haupttendenz der gegenwärtigen Politik. Das ist nicht nur erstaunlich,
sondern ausgesprochen gut. Und zwar deshalb, weil es unsere
Vorstellungen von der Gegenwart ziemlich durcheinanderbringt.
Das Dokument beschränkt sich nicht nur auf die
Periode Stalins, sondern bezieht sich auf die gesamte sowjetische Zeit.
Man kann (und muss) es kritisieren, weil es unvollständig ist und nicht
energisch genug (ich teile diese Kritik). Aber man kann doch hoffen,
dass der Rückkehr sowjetischer Symbole und Stereotype dadurch zumindest
in geringem Maß ein Riegel vorgeschoben wird. Vielleicht ist es so für
unsere heutigen Kommunisten und Nationalpatrioten nicht mehr ganz so
einfach, Denkmäler für Politiker wie Dzierzynski aufzustellen, Plätze
nach Stalin zu benennen u. dgl.
Dieses Dokument ist keine Anordnung, die sich an
irgendeine bestimmte Person richtet. Es kann sein, dass lokale
Funktionäre in Gouvernements es gar nicht lesen oder sofort wieder
vergessen, vielleicht werden sie auch überhaupt nicht davon erfahren.
Aber ich bin sicher, dass Menschen, denen es aufrichtig um das Gedenken
an den Terror zu tun ist, ausgiebig davon Gebrauch machen werden. Sie
werden sich darauf berufen, um von den Behörden Unterstützung bei ihrer
Arbeit einzufordern – bei der Suche nach Grabstätten Erschossener, der
Edition von Gedenkbüchern und der Aufstellung von Gedenkzeichen für die
Opfer…
Ungeachtet ihrer Unzulänglichkeiten ist es daher
gut, dass es diese Konzeption gibt – sie gibt der Gesellschaft ein
Instrument in die Hand. Zu einer Verschlechterung wird es dadurch nicht
kommen, und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sie einen gewissen
Nutzen bringt.
Es kommt allerdings darauf an, dass nicht nur
Funktionäre davon erfahren, sondern auch Lehrer und Bibliothekare. Sonst
werden viele von ihnen gar nicht mehr wissen, was sie nun über den
Terror sagen dürfen und was nicht.“
29. August 2015
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