Samstag, 1. November 2014

Sergej Krivenko: "Russland muss aus dem Kriegszustand heraustreten"



Sergej Krivenkos geplanter (nicht zustande gekommener) Auftritt anlässlich des Treffens mit Präsident Putin im Rahmen einer Sitzung des Rats für Zivilgesellschaft und Menschenrechte


"In Anbetracht der begrenzten Zeit hier einige Thesen über das gefährliche Niveau der Gewalt im Land.

In diesem Jahr ist die Schwelle zur Gewalt in unserer Gesellschaft drastisch gesunken. Es hat den Anschein, dass allen aktuellen Problemen heute ausschließlich mit Gewalt und Verboten begegnet wird.
Gewalt ist jedoch eine außergewöhnliche Maßnahme. Ihr Einsatz erfordert entsprechende Regelungen, sonst können die Folgen schwerwiegender sein als die eigentlichen Ursachen.
Sobald eine Entscheidung zur Gewaltanwendung getroffen wurde, ist es notwendig, Maßnahmen zur Gesundung der Menschen und zur Wiederherstellung des Lebensraumes zu planen und – das Allerwichtigste – zur Wiederherstellung der Beziehungen unter den Menschen, den Gesellschaften und den Ländern.,

Ich bitte um Entschuldigung für diese Anfängerweisheiten, aber mir scheint, dass das jetzt laut gesagt werden muss.
Der Anschluss der Krim sollte einige wichtige Probleme lösen, hat aber faktisch das System der Sicherheit untergraben, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte und auf der Helsinki-Schlussakte von 1975 basierte. Die Bedrohung ist durch die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln gestiegen, und damit auch die Gefahr eines Weltkrieges.
Unsere Zivilisation ist sehr zerbrechlich, die Sicherheit der Welt unteilbar und kann nicht nur für irgendein Land separat gelten. Die Sicherheit der Welt kann nur durch die ganze Welt aufgebaut werden. Die Ideen und Prinzipien der Helsinki-Schlussakte müssen unterstützt und weiter entwickelt werden.

Die Unterstützung für die Menschen im Donbass, die sich die Unabhängigkeit von der zentralen ukrainischen Staatsmacht wünschen, die Unterstützung der russischen Bürger, die sich an illegalen militärischen Formationen auf dem Territorium der Ukraine beteiligen, hat offenbar auch einige wichtige staatliche Aufgaben gelöst. Aber diese Handlungen haben Russland und die Ukraine entzweit und eine ganze Reihe neuer Probleme geschaffen. Die russischen Staatsbürger, die sich an diesem Konflikt beteiligt haben, „sind auf den Geschmack des Krieges gekommen“. Dabei ist das kein gewöhnlicher Krieg, sondern ein Partisanenkrieg. Wie werden sie wieder in das friedliche Leben in Russland eingegliedert werden? Wie kann ein Waffenstrom zurück nach Russland verhindert werden? Wie können sich jetzt die Völker der Ukraine und Russland wieder versöhnen?

Die Hauptmethode, mit der man Meinungsverschiedenheiten überwindet, ist der Dialog. Aber für einen Dialog ist es notwendig, die gegenseitigen Argumente zu hören und zu verstehen. Was im Osten der Ukraine geschieht, wird in Russland als „Bürgerkrieg in der Ukraine“ eingestuft. Und in der Ukraine nennt man diese Ereignisse „Aggressionen Russlands gegen die Ukraine“. Ist Russland bereit, den Bürgern der Ukraine zuzuhören und ehrlich und offen die entstandenen Probleme zu diskutieren?

Der mit den Minsker Vereinbarungen begonnene Prozess der friedlichen Beilegung der Krise im Osten der Ukraine muss unbedingt beibehalten werden, auch für die psychische Erholung des öffentlichen Bewusstseins der russischen Gesellschaft.
Russland muss aus dem Kriegszustand heraustreten, aus allen Kriegen – dem Informationskrieg, dem hybriden Krieg, dem Kalten Krieg.

Das Erzeugen einer Kriegsstimmung in der Gesellschaft, das Kultivieren eines „Feindbildes“ und einer Atmosphäre militärischer Konfrontation, eines ständigen „Ausnahmezustandes“ in allen gesellschaftlichen Bereichen, die Initiierung und Ausbreitung von Gewalt sind extrem gefährlich und unberechenbar.


Herr Präsident! Ich übergebe Ihnen die von Ella Poljakova[1] und mir verfasste Anfrage zu russischen Wehrdienstleistenden.

Danke.

Sergej Krivenko"

Übersetzung: Sabine Erdmann-Kutnevič






[1] Leiterin der „Soldatenmütter St. Petersburg“.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen