Freitag, 18. Juli 2014

Erklärung des "Kongresses der Intelligenz"

Am 19. Juni tagte in Moskau der "Kongress der Intelligenz". Es ging um die Rolle und die Verantwortung der Intelligenz. Die im Vorfeld zu diesem Thema verfasste Erklärung wurde von über hundert prominenten Personen unterzeichnet.
Es folgt der Text der Erklärung.

Gespaltenes Russland – unsere Rolle und Verantwortung

Die ukrainische Krise, die Mobilisierung und Polarisierung der öffentlichen Meinung im Zusammenhang mit den Ereignissen im Nachbarland und dann der blutige bewaffnete Konflikt in der Ostukraine haben den in unserer Gesellschaft de facto bereits seit Anfang der 90er Jahre bestehenden kalten Bürgerkrieg extrem verschärft.

Es ist zu einer tiefen Spaltung in der gesamten Gesellschaft gekommen, auch in dem Teil, den man gewöhnlich als Intelligenz bezeichnet. Wir beobachten derzeit, dass viele von denen, die sich zur Intelligenz zählen, vom patriotischen Rausch erfasst sind (die einen aus Gedankenlosigkeit, andere aus merkantilen Überlegungen). Sie haben sich wie die hauptamtlichen Kremlpropagandisten und regierungstreuen Ideologen faktisch der antiukrainischen Kampagne angeschlossen, die nicht nur in subversiven Aktionen gegen das Nachbarland besteht, sondern auch das gesellschaftspolitische Klima in Russland selbst deutlich verschlechtert und die soziale Spannung anheizt.

Unter dem Nebelvorhang der ultrapatriotischen Propaganda werden Freiheit und Demokratie immer mehr eingeschränkt, eine Entwicklung, die uns geradewegs in eine totalitäre Gesellschaft führen wird.

Unter der Restauration des Totalitarismus haben alle Parteien in der verschärften öffentlichen Polemik zu leiden, egal wie sie zum westlichen Liberalismus, zur territorialen Zugehörigkeit der Krim und des Donbass und zur Rolle Stalins in der Geschichte stehen.

Der innere Konflikt in der Ukraine ist zu einem handfesten blutigen Krieg geworden, in den auch Russland involviert ist. Opfer dieses Krieges kommen bereits als „Ladung 200“ nach Russland, und wir sehen, wie die Machthaber ihre Leichen versteckt, die Namen geheim hält und nicht erlaubt, diese Menschen menschlich zu bestatten. Die Verantwortung für den Tod dieser Menschen liegt bei der Regierung und den Anstiftern, die im Fernsehen dazu aufrufen, sich noch intensiver in die Angelegenheiten eines souveränen Landes einzumischen, seine Grenzen zu verletzen, militärische Hilfe zu leisten und freiwillige Kämpfer in den sicheren Tod zu schicken. Und jene, die Glück haben und am Leben bleiben, kehren geistig, manchmal auch physisch verkrüppelt zurück und bringen die schreckliche Erfahrung eines Bürgerkriegs nach Russland. Ihr Auftauchen wird die ohnehin zunehmende Konfrontation in Russland noch weiter verschärfen.

Obwohl die Regierung gezwungen ist, unter dem Druck der Weltgemeinschaft einige halbherzige Versöhnungsgesten zu machen und der Präsident sogar auf das ihm gewährte Recht, Truppen in die Ukraine zu entsenden, verzichtet hat, geht der Konflikt weiter. Er wirkt sich auf das ganze Leben in unseren beiden Ländern aus.

Seinerzeit galt die russische Intelligenz als das Gewissen der Nation. Heute ist sie gepalten, und viele Personen, die dieser Schicht formal angehören, kommen bereitwillig allen Wünschen der Regierung nach und billigen all ihre unvernünftigen, ja sogar selbstmörderischen Aktionen. Aber jene, denen die Begriffe Ehre, Gewissen, Verantwortung gegenüber Land, Volk und Geschichte noch etwas bedeuten, dürfen nicht verzweifeln, den Mut nicht sinken lassen. Sie müssen den Menschen die Wahrheit auf jede mögliche Weise nahebringen, die Lüge entlarven, den Frieden in der eigenen Gesellschaft suchen und sich aktiv gegen jene zur Wehr setzen, die bewusst oder in sinnlosem Rausch großes Unheil anrichten und uns in einen neuen Bürgerkrieg verwickeln. Die Pflicht der Intelligenz heute ist es, zur Kompromissfindung beizutragen, unmittelbare Konfrontationen zu entschärfen und daraus einen sachlichen Dialog zu machen, an dem alle teilnehmen, die dazu imstande sind.

Es ist Zeit, dass sich Intellektuelle, Wissenschaftler, Literaten, Menschenrechtler, Politiker, Engagierte, Journalisten, alle denkenden Menschen endlich dessen bewusst werden, dass die Gefahr einer totalitären Revanche und sogar einer blutigen Konfrontation allzu real ist.

Wir müssen dem hereinbrechenden sozialen Unheil, das für alle eine tödliche Gefahr darstellt, moralischen Widerstand leisten.

Vladimir Vojnovich, Andrej Lipskij, Ljudmila Alekseeva, Ljudmila Ulizkaja, Irina Prochorova, Lev Ponomarev, Svetlana Gannuschkina, Valerij Borschtschev, Viktor Schenderovich, Andrej Subov, Leonid Gozman, Boris Dubin, Marietta Tschudakova, Konstantin Asadovskij, Lev Gudkov, Leonid Tschubarov und viele andere

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