Am 19. Juni tagte in Moskau der "Kongress der Intelligenz". Es ging um die Rolle und die Verantwortung der Intelligenz. Die im Vorfeld zu diesem Thema verfasste Erklärung wurde von über hundert prominenten Personen unterzeichnet.
Es folgt der Text der Erklärung.
Gespaltenes Russland – unsere Rolle und Verantwortung
Die ukrainische Krise, die Mobilisierung und
Polarisierung der öffentlichen Meinung im Zusammenhang mit den
Ereignissen im Nachbarland und dann der blutige bewaffnete Konflikt in
der Ostukraine haben den in unserer Gesellschaft de facto bereits seit
Anfang der 90er Jahre bestehenden kalten Bürgerkrieg extrem verschärft.
Es ist zu einer tiefen Spaltung in der gesamten
Gesellschaft gekommen, auch in dem Teil, den man gewöhnlich als
Intelligenz bezeichnet. Wir beobachten derzeit, dass viele von denen,
die sich zur Intelligenz zählen, vom patriotischen Rausch erfasst sind
(die einen aus Gedankenlosigkeit, andere aus merkantilen Überlegungen).
Sie haben sich wie die hauptamtlichen Kremlpropagandisten und
regierungstreuen Ideologen faktisch der antiukrainischen Kampagne
angeschlossen, die nicht nur in subversiven Aktionen gegen das
Nachbarland besteht, sondern auch das gesellschaftspolitische Klima in
Russland selbst deutlich verschlechtert und die soziale Spannung
anheizt.
Unter dem Nebelvorhang der ultrapatriotischen
Propaganda werden Freiheit und Demokratie immer mehr eingeschränkt, eine
Entwicklung, die uns geradewegs in eine totalitäre Gesellschaft führen
wird.
Unter der Restauration des Totalitarismus haben alle
Parteien in der verschärften öffentlichen Polemik zu leiden, egal wie
sie zum westlichen Liberalismus, zur territorialen Zugehörigkeit der
Krim und des Donbass und zur Rolle Stalins in der Geschichte stehen.
Der innere Konflikt in der Ukraine ist zu einem
handfesten blutigen Krieg geworden, in den auch Russland involviert ist.
Opfer dieses Krieges kommen bereits als „Ladung 200“ nach Russland, und
wir sehen, wie die Machthaber ihre Leichen versteckt, die Namen geheim
hält und nicht erlaubt, diese Menschen menschlich zu bestatten. Die
Verantwortung für den Tod dieser Menschen liegt bei der Regierung und
den Anstiftern, die im Fernsehen dazu aufrufen, sich noch intensiver in
die Angelegenheiten eines souveränen Landes einzumischen, seine Grenzen
zu verletzen, militärische Hilfe zu leisten und freiwillige Kämpfer in
den sicheren Tod zu schicken. Und jene, die Glück haben und am Leben
bleiben, kehren geistig, manchmal auch physisch verkrüppelt zurück und
bringen die schreckliche Erfahrung eines Bürgerkriegs nach Russland. Ihr
Auftauchen wird die ohnehin zunehmende Konfrontation in Russland noch
weiter verschärfen.
Obwohl die Regierung gezwungen ist, unter dem Druck
der Weltgemeinschaft einige halbherzige Versöhnungsgesten zu machen und
der Präsident sogar auf das ihm gewährte Recht, Truppen in die Ukraine
zu entsenden, verzichtet hat, geht der Konflikt weiter. Er wirkt sich
auf das ganze Leben in unseren beiden Ländern aus.
Seinerzeit galt die russische Intelligenz als das
Gewissen der Nation. Heute ist sie gepalten, und viele Personen, die
dieser Schicht formal angehören, kommen bereitwillig allen Wünschen der
Regierung nach und billigen all ihre unvernünftigen, ja sogar
selbstmörderischen Aktionen. Aber jene, denen die Begriffe Ehre,
Gewissen, Verantwortung gegenüber Land, Volk und Geschichte noch etwas
bedeuten, dürfen nicht verzweifeln, den Mut nicht sinken lassen. Sie
müssen den Menschen die Wahrheit auf jede mögliche Weise nahebringen,
die Lüge entlarven, den Frieden in der eigenen Gesellschaft suchen und
sich aktiv gegen jene zur Wehr setzen, die bewusst oder in sinnlosem
Rausch großes Unheil anrichten und uns in einen neuen Bürgerkrieg
verwickeln. Die Pflicht der Intelligenz heute ist es, zur
Kompromissfindung beizutragen, unmittelbare Konfrontationen zu
entschärfen und daraus einen sachlichen Dialog zu machen, an dem alle
teilnehmen, die dazu imstande sind.
Es ist Zeit, dass sich Intellektuelle,
Wissenschaftler, Literaten, Menschenrechtler, Politiker, Engagierte,
Journalisten, alle denkenden Menschen endlich dessen bewusst werden,
dass die Gefahr einer totalitären Revanche und sogar einer blutigen
Konfrontation allzu real ist.
Wir müssen dem hereinbrechenden sozialen Unheil, das für alle eine tödliche Gefahr darstellt, moralischen Widerstand leisten.
Vladimir Vojnovich, Andrej Lipskij, Ljudmila
Alekseeva, Ljudmila Ulizkaja, Irina Prochorova, Lev Ponomarev, Svetlana
Gannuschkina, Valerij Borschtschev, Viktor Schenderovich, Andrej Subov,
Leonid Gozman, Boris Dubin, Marietta Tschudakova, Konstantin Asadovskij,
Lev Gudkov, Leonid Tschubarov und viele andere
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