Samstag, 10. Mai 2014

Carl-von-Ossietzy-Preis 2014

Rede von Irina Scherbakowa anlässlich der Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg für Zeitgeschichte und Politik am 4. Mai 2014 im Oldenburger Schloss


Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Jury-Mitglieder,

ich möchte mich ganz herzlich für diese Ehre bedanken – für die Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises.

Der Name Carl von Ossietzky ist ein so starkes Symbol für politische Entschlossenheit, Konsequenz und Mut, dass ich beim Erhalt dieses Preises durchaus ein Unbehagen empfinde. Vor allem im Angesicht des höchsten menschlichen Preises, den Carl von Ossietzky für seine Tätigkeit und politische Überzeugung bezahlt hat. Wie soll man sich im heutigen Russland auch dabei fühlen, wenn die Wellen des Nationalismus und der Absagen an Demokratie und Freiheit so hochschlagen, dass man sich die Frage stellen muss, ob all das, worauf man gehofft und wofür man gearbeitet hat, womöglich fast hoffnungslos oder sogar sinnlos erscheint?

Gegenwärtig wird sehr oft wiederholt, dass alle historischen Vergleiche unpassend seien, unwissenschaftlich und zumeist falsch lägen. Was dabei gern aus den Augen verloren wird, ist, dass Vergleichen nicht Gleichstellung bedeuten muss. (Neuerdings verfasst sogar die russische Duma Gesetze, wonach man sich bereits beim Erwähnen bestimmter historischer Parallelen strafbar machen kann). Aber welche Mechanismen hat ein Historiker sonst, besonders, wenn im öffentlichen Diskurs Begriffe aus den Zeiten des Kalten Krieges wie „belagerte Festung“, „der Eiserne Vorhang“ oder aus den Jahren des Großen Terrors wie „Fünfte Kolonne“, „ausländische Agenten“, „Nationalverräter“ auftauchen? Begrifflichkeiten, anhand derer deutlich zu sehen ist, wie bestimmte Klischees aus der Vergangenheit wieder brauchbar gemacht werden – für propagandistische Zwecke und eine neue Staatsideologie.

Aber gerade deshalb kommt man nicht umhin, darüber nachzudenken, welche Annäherungen und Beispiele uns diese Vergangenheit anbietet.
Als ich, damals junge Germanistik-Studentin, angefangen habe, mich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu interessieren, galt mein Interesse vor allem der Weimarer Republik. Meine ersten literarischen Übersetzungen ins Russische waren die Miniaturen von Kurt Tucholsky. Die meisten von ihnen waren erstmalig in der Zeitschrift „ Die Weltbühne“ publiziert worden. Bei dieser Arbeit öffnete sich für mich die bunte, widerspruchsvolle Atmosphäre der Weimarer Republik – zwischen der Romantik der Moderne im Sinne von „Berlin, die Sinfonie der Großstadt“ und dem stets wachsenden politischen Radikalismus.

Zu dieser „Sinfonie“ gehörten auch die engagierte Publizistik und die politische Satire, die solche Persönlichkeiten wie Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky verkörperten. Vor allem – sogar in meiner damaligen Unwissenheit vieler historischer Details – beeindruckte mich die Schnelligkeit, mit der diese Buntheit verschwand und der Betonkloß der „Volksgemeinschaft“ entstanden ist – und welche Folgen das mit sich brachte für die Menschen, für die Hauptakteure dieser Sinfonie, die oft gezwungen waren, zwischen Stalin und Hitler zu wählen, wobei auf beiden Seiten Gefängnis, Lager und Tod auf sie lauerten.

Die Schicksale von Carl von Ossietzky, von Erich Mühsam im Hitlerdeutschland waren tragisch, aber auch die Ehefrau Mühsams, Zenzl Mühsam, die die Rettung im „Vaterland aller Werktätigen“ suchte, wurde verhaftet, konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit beschuldigt und für mehrere Jahre in den GULAG gesteckt. Sie überlebte.

Aber ihre Freundin, Carola Neher, Theaterstar der Berliner Bühnen in den 1920er Jahren, starb im NKWD-Gefängnis, im Gefängnis des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, nach fünf Jahren Haft. Viele der deutschen Emigranten, die bei Stalin Zuflucht gesucht haben, fanden in der Sowjetunion ihren Tod. Und wenn, wie im Falle von Erich Mühsam und Carl von Ossietzky, die Weltöffentlichkeit protestierte und Solidarität zeigte – wie durch die Verleihung des Nobelpreises an Carl von Ossietzky –, so waren die Schicksale derer, die in der Sowjetunion der Repression unterworfen waren, über Jahrzehnte von Schweigen umhüllt.

Ganz besonders makaber erscheint dabei das Schicksal jener deutschen Emigranten, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom NKWD aus dem stalinschen GULAG nach Deutschland ausgeliefert und dort in die KZs gesteckt wurden.
Wie es der Zufall wollte, waren die ersten Akten, zu denen ich im Jahre 1991 in den geheimen KGB-Archiven Zugang bekam, gerade eben diese Akten – die Akten der ausgelieferten deutschen politischen Emigranten. Das, was ich in diesen Akten las, war erschütternd, und nicht nur deshalb, weil sie eine Vorstellung vom Funktionieren der NKWD-Maschinerie vermittelten, sondern weil sie auch die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens, des Argwohns und schließlich auch des direkten Denunziantentums wiedergaben.

Aber schon lange bevor ich diese Akten lesen konnte, habe ich ab Anfang der 80er Jahre Erfahrungen und Kenntnisse über die Schicksale von stalinschen Opfern gesammelt. Denn die Zeit des stalinschen Terrors wurde für mich und für einige meiner Zeitgenossen zu jener schwarzen Zone, die man stets zu erforschen versucht.

Für mich persönlich war diese intensive Auseinandersetzung auch eine Folge daraus, dass ich in einem Milieu aufwachsen bin, in dem Politik, Geschichte und Erinnerung im Zentrum des Lebens standen. Von meiner Kindheit an umringten mich Frauen der älteren Generation, Freundinnen meiner Großmutter aus den 1920-30er Jahren, die GULAG-Überlebende waren.

Ich hatte das große Glück, mit diesen Frauen reden zu können, denn sie erzählten mir viele Episoden aus ihren langen Lager- und Gefängnisaufenthalten. Und ich hatte sehr viele Fragen an sie – denn ich wollte begreifen, was mit diesen Frauen geschehen war und wie es überhaupt möglich gewesen ist, so etwas zu überleben. Und damit begann meine Beschäftigung mit Biographien von GULAG-Opfern und dem historischen Gedächtnis in Russland im 20. Jahrhundert.

Ich hatte auch das große Glück, dass meine Eltern zu der vielleicht interessantesten und widersprüchlichsten Generation der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gehörten – jener Generation, deren Vertreter in Russland üblicherweise die Generation „der Sechziger“ genannt wird. Stalins Tod und der Beginn des Tauwetters ereigneten sich in ihrer Jugendzeit, bestimmten ihr weiteres Leben und füllten es mit großen Hoffnungen. Sie waren es auch, die den Kampf für die „Entstalinisierung“ der Gesell-schaft begonnen haben. In der damaligen Sowjetunion war eine breite politische
Bewegung mit Protesten und Kundgebungen allerdings unvorstellbar. Zum Ort des politischen Kampfes wurde stattdessen die Kultur – vor allem die Literatur –, und ihre wichtigste Waffe war – das Wort. Der ideologische Kampf fand in künstlerischen Werken und auf den Seiten der Literaturzeitschriften statt.

Das wichtigste Thema, das durch alle Zensurnetze hindurchgeschlüpft war, war die Abrechnung mit der stalinschen Vergangenheit. „Wir brauchen die Wahrheit über die Vergangenheit“ – das war fast die wichtigste Parole der „Sechziger“. Jedes freie Wort war in der zensierten sowjetischen Realität mit Gold aufzuwiegen. Sobald es jemandem gelang, mit einer Publikation, einem Bild oder einem Film die Zensur zu durchbrechen, wurde dieser Vorgang sofort Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Diskussion.

Aber: Viel zu stark war der von Stalin geschaffene bürokratische Apparat, viel zu inkonsequent war Chruschtschow und viel zu schwach waren die demokratischen Kräfte. Das Jahr 1968, im Westen der Höhepunkt einer breiten Studentenbewegung, wurde in Russland zum Jahr des Abschieds von den letzten Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Und trotzdem hielten viele Intellektuelle an dem Glauben ihrer Jugendjahre fest, dass die „historische Wahrheit“, wenn sie sich nur an die Oberfläche durchkämpfe, das Land verändern werde. Tausende „Sechziger“ im ganzen Land waren treue Leser der Untergrundliteratur und Hörer westlicher Radiosender. Sie fürchteten den KGB zweifellos, aber die schlimmste Angst, die ihre Eltern in den 30er Jahren durchlebt hatten, lag bereits hinter ihnen. Ein IM zu sein war zwar schändlich, aber das Denunziantentum in Russland sah ganz anders aus als das in der DDR – ohne Glauben, ohne „Romantik“ und mit weniger Angst. Auch die Sicherheitsorgane arbeiteten mit weniger Enthusiasmus.

Wir aber, die Generation der 70er Jahre, die den „Sechzigern“ folgte, hatten viel weniger Illusionen; wir hatten nicht ihre Lebensenergie und auch nicht ihren histo-rischen Optimismus. Aber wir versuchten in gewisser Weise diese Entstalinisierungsarbeit fortzusetzen – allerdings auf eine etwas andere Art, denn wir hatten ja gar keine eigene Erinnerung an den Terror. Wir suchten nach historischen Quellen. Diese Quellen fanden sich beim Sammeln und Aufzeichnen von Erinnerungen und Zeugnissen. Wir werteten sie viel reflexiver aus, mit weniger Schwarz-Weiß-Denken und zum Teil aus kritischer Distanz.

Aber bis zum Beginn der Gorbatschow-Ära sollten noch einige Jahre vergehen. Heute wird manchmal behauptet, die wichtigste Antriebskraft der Perestroika seien die engagierten „Leser“ gewesen und bis zu einem gewissen Grad ist das auch richtig. Denn tatsächlich waren es die Leser im weitesten Sinn, also die Vertreter der sowjetischen technischen und künstlerischen Intelligenz, die den Reformkurs unterstützten.

Diese Leser – Ingenieure und Bibliothekare, Lehrer und Wissenschaftler, auf deren Plakaten die Losung stand Wir fordern die Wahrheit über die Vergangenheit, Meinungsfreiheit und Demokratie! – gingen Ende der 80er Jahre auf die Straße. Die politischen Veränderungen in Russland begannen nicht mit der Gründung großer Oppositionsparteien oder -bewegungen, denn dafür war die Gesellschaft noch nicht reif, sondern mit der Veröffentlichung von zuvor der Zensur unterworfenen, also verbotenen künstlerischen Texten und mit der Rückkehr verbotener Themen, Bücher und Autoren in die Literatur und die Publizistik. Das wichtigste Thema waren die politischen Repressionen, die immer mit dem kommunistischen Regime einhergegangen sind.

Den Höhepunkt der Perestroika und, wie es damals aussah, auch den Markstein in der veränderten Einstellung der Gesellschaft gegenüber der kommunistischer Vergangen-heit, stellte das Jahr 1989 dar. Und wenn ich heute zurückdenke, muss ich sagen, dass es wohl das glücklichste Jahr meines Lebens war.

In diesem Jahr, 1989, haben die ersten freien Wahlen in Russland seit 1917 stattgefunden. Neben dem Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn ist auch eine ganze Reihe anderer, bisher verbotener Werke veröffentlicht worden. Und ebenfalls in diesem Jahr wurde unter dem Vorsitz des aus der Verbannung zurückgekehrten Andrei Sacharow die erste unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation „Memorial“ gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Denkmäler für die Opfer der politischen Repressionen zu errichten, die Geheimarchive zu öffnen und alle ehemaligen politischen Gefangenen zu rehabilitieren.

An verschiedenen Orten der damaligen Sowjetunion wurden Massengräber entdeckt, in denen die erschossenen Opfer des Terrors der Stalinzeit vergraben worden waren. In Moskau fand man mindestens drei solcher Orte mit 40 000 Opfern. Zum ersten Mal erhielten die Verwandten der Ermordeten die Möglichkeit zu erfahren, wo ihre Angehörigen begraben waren. Dank des neuen Archivgesetzes wurden Tausende Dokumente freigegeben und veröffentlicht.

Es begann die wissenschaftliche Erforschung der kommunistischen Vergangenheit. Die ersten Monographien erschienen und es wurden Arbeiten aus-ländischer Wissenschaftler übersetzt, die sich mit den „weißen Flecken“ in der sowjetischen und der russischen Geschichte beschäftigten. Und endlich wurden auch die realen Zahlen der direkten Opfer Stalinscher Repressionen bekannt – etwa 12 Millionen Menschen. Der Mechanismus der Massenrepressionen und des Großen Terrors wurde aufgedeckt.

Auch im kulturellen Gedächtnis erfolgten Veränderungen: Vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden die Denkmäler einiger sowjetischer Akteure abgerissen, Straßen und Städte wurden zum Teil umbenannt. Gleichzeitig wurden durch Aktivisten der gesellschaftlichen Organisationen Denkmäler und Gedenktafeln vor allem dort angebracht, wo die Opfer des kommunistischen Terrors begraben lagen. Auf diese Weise entstand das bis heute einzige derartige Denkmal im Zentrum Moskaus – ein Stein von den Solowetzker Inseln, der von Mitgliedern der Gesellschaft Memorial von dort, wo das erste sowjetische Lager entstanden war, nach Moskau gebracht und 1990 gegenüber dem Hauptsitz des sowjetischen Geheimdienstes am Lubjankaplatz aufgestellt wurde.

Damals schien es vielen von uns, als sei dies lediglich der Beginn eines breiten Prozesses der Aufarbeitung der Vergangenheit, und dass die schwer traumatisierende Erfahrung einiger sowjetischer Generationen, verschärft durch die jahrzehntelangen Lügen, die Geheimhaltung und das Schweigen, die Basis für eine tiefgreifende gesellschaftliche Reflexion bieten würde. Aber es stellte sich alles als sehr viel schwieriger und schmerzhafter heraus, als es uns damals am Ende der 1980er Jahre erschien.

Mit dem Zerfall des Sowjetimperiums im Jahr 1991 erfolgten Veränderungen, die nicht in das noch sehr sowjetische Bewusstsein der Menschen passen wollten: nicht nur die Abspaltung der Balten und der kaukasischen und zentralasiatischen Republiken, sondern auch der Ukraine und Weißrusslands –, ein zuvor völlig unvorstellbarer Vorgang, der eine starke Identitätskrise hervorgerufen hat.

All das erfolgte vor dem Hintergrund der beginnenden Wirtschaftsreformen, die den Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft beschleunigten, was sich wiederum sehr schmerzhaft auf das Leben von Millionen von Menschen auswirkte. Der tägliche Kampf ums Überleben verdrängte nicht nur das Interesse an der Vergangenheit, mehr noch: Eben diese bis vor kurzem noch von allen verdammte Vergangenheit erhielt plötzlich eine nostalgische und sogar hell leuchtende Farbe. Es gab immer weniger echte Träger der Erinnerung an den Terror und das grausame Stalinsche System und die nach Wahrheit lechzenden Leser der Perestroika – die Lehrer, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und so weiter – fanden sich in der allerschlimmsten wirtschaftlichen Lage wieder.

Ende der 1990er Jahre war es bereits ganz offensichtlich, dass das Thema der Repressionen an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins gerückt war. Es tat sich ein tiefer Graben auf zwischen dem, was bis zu einem gewissen Grad von den Historikern bereits getan worden war und dem Massenbewusstsein, in dem gleichzeitig mit den wieder auflebenden alten sowjetischen Mythen auch neue entstanden.

All das führte nach und nach dazu, dass die Mehrzahl der Bevölkerung gegen Ende der 1990er Jahre die sowjetische Vergangenheit bereits nicht mehr als tragisch und negativ ansah. Das Bild dieser Vergangenheit wurde im allgemeinen Bewusstsein immer mehr zum mythologischen sowjetischen „Kultur- und Erholungspark“ oder zum vergnüglichen Kitsch. Die schwache Macht der Jelzin-Zeit schwankte zwischen Kritik am kommu-nistischen Regime und einer Art populistischem Spiel mit jenem Teil der Bevölkerung, der sich in den schwierigen 1990er Jahren sehnsüchtig an die angeblich so „glücklichen“ 1970er Jahre erinnerte.

Es wurden in den 1990er Jahren keine Leitlinien einer Geschichtspolitik herausgebildet, die irgendwie eine Richtung vorgegeben hätten. Es gab keine juristische oder rechtliche Beurteilung des kommunistischen Regimes, der Rolle Lenins, Stalins und seiner Mitstreiter; es gab keine Entscheidungen des Parlaments zu diesen Fragen. Es gab keine Durchleuchtung und keine wirkliche Reform der Staatssicherheitsorgane. Diese Unterschätzung der Bedeutung einer konsequenten „Entsowjetisierung“ hatte, wie wir es heute deutlich sehen, schwerwiegende Folgen.

Am Beginn der sogenannten „Nullerjahre“ wurde es offensichtlich, dass die Idee von Ordnung, starker Macht und der „harten Hand“ in der Gesellschaft immer mehr Gewicht bekam. Mit dem kritischen Blick auf die sowjetische Vergangenheit und ihre Auf-arbeitung verband man die unruhigen Zeiten der Perestroika und die „chaotischen Neunziger“, an die sich viele nur ungern erinnerten. Die entscheidende Kehrtwende in der Beurteilung der Vergangenheit und der Aufbau einer nationalen Geschichtspolitik begannen allerdings erst nach dem Jahr 2000 mit dem Machtwechsel im Kreml.

Wichtigster Schwerpunkt der nationalen Ideologie wurde die Idee vom starken Staat mit einem starken nationalen Führer. Und auf der Suche nach Material, das diesen Gedanken unterstreichen und bestärken sollte, wandte man sich der russischen Geschichte zu. Gleichzeitig mit dem Aufbau der Machtvertikale wurde auch eine Geschichtsvertikale errichtet und die Kremlideologen wurden nicht müde, sich auf „starke Machthaber“ zu berufen und zu erklären, nur diese könnten Russland wieder stärken.

Die oft äußerst tragischen persönlichen familiären Erinnerungen existierten dabei völlig abgetrennt von der großen Geschichte und verbanden sich oft auf absurde Weise mit einem durchaus positiven Bild von Stalin und der Sowjetmacht. Besonders schwierig war die Frage nach Schuld und Verantwortung. Die Grenze zwischen Opfern und Tätern zu ziehen, ist sehr kompliziert, denn viele Täter wurden ja später selbst zu Opfern des Terrors.

Auf die Frage, wer an der russischen Tragödie des 20. Jahr-hunderts Schuld sei, gab es entweder gar keine Antwort oder man antwortete mit Hilfe der alten Klischees aus den 1930-50er Jahren. Vor diesem Hintergrund wuchsen die antiwestlichen Stimmungen, der Geist des Kalten Krieges kehrte zurück und Russland sollte wieder als Festung, umgeben von feindlichen Kräften, erscheinen.

Die offensichtliche Entscheidung, den konservativen Weg des „Anziehens der Schrauben“ zu wählen (ein Begriff aus der Stalinzeit, der plötzlich wieder auftauchte), die Verfolgung der Teilnehmer an Protestkundgebungen, das Gesetz gegen so-genannte „ausländische Agenten“, harte Einschränkungen der Meinungs- und Presse-freiheit, letztendlich auch das Wiederbeleben vom imperialen Syndrom in einer sehr gefährlichen und aggressiven Form, führten zu einer tiefen Spaltung in der Gesellschaft: zwischen dem modernen, gebildeten und demokratisch eingestellten Teil und den traditionalistischen, konservativen und passiven Kräften, die heute von starkem Nationalismus angesteckt sind. Der erste Teil scheint leider viel kleiner und schwächer zu sein – und man wähnt sich wieder in der ewigen Spirale der russischen Geschichte gefangen.

Umso mehr brauchen solche Kräfte heute Unterstützung und Solidarität. Und diese Unterstützung und Solidarität spüren wir am stärksten aus Deutschland, aus der deutschen Zivilgesellschaft und Wissenschaft, aus Gedenkstätten und menschenrechtlichen Organisationen, mit denen uns seit Beginn der 90er Jahre ein intensiver gemeinsamer Aufarbeitungsprozess der kommunistischen Vergangenheit verbindet.

Als solche Unterstützung und Solidarität empfinde ich auch diesen Preis. Und dafür nochmals mein tiefer Dank.

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