Sonntag, 5. Januar 2014

Russische Nichtregierungsorganisationen und die Auswirkungen des „Agentengesetzes“


Eine Bilanz für 2013


Das Jahr 2013 stand für die russischen NGOs im Zeichen der 2012 im Schnellverfahren beschlossenen Novelle des NGO-Gesetzes, die im November 2012 in Kraft getreten war. Das Gesetz war um die Bestimmung ergänzt worden, dass sich „politisch tätige“ und zumindest teilweise aus dem Ausland finanzierte NGOs als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssten; daher die Bezeichnung als „Agentengesetz“.

Im Februar 2013 mahnte Präsident Putin ausdrücklich an, dass die  novellierte Fassung des NGO-Gesetzes auch anzuwenden sei. Fast keine NGO hatte sich bereit erklärt, sich als „ausländischer Agent“ registrieren zu lassen – ein historisch belasteter Begriff, der für viele einfach gleichbedeutend ist mit „Spion“. (Eine einzige Organisation ließ sich tatsächlich in das Verzeichnis aufnehmen - ein Verein gegen die Bildung von Monopolen unter der Bezeichnung „Förderung der Entwicklung von Konkurrenz in der GUS.“)

Furkat Tischaev, der viele NGOs in den folgenden Prozessen vertreten hat, nannte dies einen präzedenzlosen Vorgang: „Bisher gab es Gesetze, mit denen man nicht einverstanden war, aber niemand hätte sich unterfangen, sie zu boykottieren. Das ist ein noch nicht dagewesenes Phänomen in Russland, dass NGOs gesagt haben: Ihr könnt uns zerstören, aber dieses Gesetz werden wir nicht einhalten.“ Im Frühjahr setzten die bekannten umfassenden Überprüfungen der NGOs ein, die Tausende von Dokumenten in kürzester Zeit zusammenstellen und übergeben mussten. Gelegentlich wurden die überprüfenden Organe von Aufnahmeteams des Fernsehkanals NTV begleitet.

Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben Tausende von Organisationen überprüft. „Closed society“ und Radio Svoboda haben die Daten aus Publikationen und offen zugänglichen Quellen erfasst und eine Übersicht über die Überprüfungen und über die nachfolgenden Maßnahmen, Verfahren und Sanktionen als interaktive Karte ins Internet gestellt. Registriert wurden 311 Überprüfungen von insgesamt 13 Behörden. 99 dieser NGOs wurde gemaßregelt (einige davon mehrfach): 52 erhielten eine Verwarnung, sie wurden ermahnt, die Gesetze einzuhalten. 18 NGOs wurden aufgefordert, sich als „Agent“ registrieren zu lassen. Wegen nicht erfolgter Registrierung als „Agent“ wurden neun Administrativverfahren eingeleitet. Die Arbeit zweier Organisationen wurde für sechs bzw. drei Monate ausgesetzt – dies galt für die „Assoziation Golos“ (den Dachverband der einzelnen Golos-Verbände) und die „Regionale gesellschaftliche Organisation Golos“. „Golos“ hat sich inzwischen umstrukturiert und setzt seine Tätigkeit zum Schutz der Wählerrechte als „gesellschaftliche Bewegung“ fort.

Die NGOs setzten sich gegen die Maßnahmen gerichtlich zur Wehr. Die Gerichte verfuhren unterschiedlich. Tischaev zufolge folgten sie entweder in allem der Staatsanwaltschaft und bewerteten etwa die Rechtsberatung für Bolotnaja-Häftlinge (die nach der Demonstration am 6. Mai 2012 inhaftiert worden waren) oder die Organisation von Diskussionsveranstaltungen als „politische Tätigkeit“ im Sinne des Gesetzes. Oder aber sie entschieden zugunsten der NGOs, dann aber aus formalen Gründen (z. B. weil der Staatsanwalt eine erforderliche Vollmacht nicht vorgelegt hatte). „Statistisch betrachtet, ist das Ergebnis der gewonnenen und verlorenen Verfahren unentschieden, aber inhaltlich gesehen ist es eine Katastrophe“, so Tischaev. Auf eine inhaltliche Aussage, dass Menschenrechtsarbeit nicht „politisch“ sei, habe sich kein Gericht eingelassen. Eine Ausnahme sei hier lediglich Perm. Dort wurde gerichtlich festgehalten, dass die Menschenrechte ein in der Verfassung verankerter Grundwert sind, den zu schützen daher keine „politische“ Tätigkeit sei.

Aus einer Analyse von Closed Society geht hervor, dass die Novelle des NGO-Gesetzes vor allem Menschenrechtsorganisationen im Visier hatte. Sie machen 30 Prozent der überprüften Organisationen aus, und hier waren vor allem jene zum Schutz der Wählerrechte (Golos) und Verbände zum Schutz sexueller Minderheiten - LGBT-Verbände - betroffen. Von letzteren wurden sechs geprüft und fünf zu (Geld)Strafen verurteilt.

Einen Sonderfall stellen Tischaev zufolge die „Zivilklagen“ dar, die die Staatsanwaltschaft gegen vier NGOs eingeleitet hat – das ADZ Memorial und die LGBT-Vereinigung „Vychod“ in Petersburg, die „Don-Frauen“ in Novotscherkassk und das Zentrum für soziale und Genderforschung in Saratov. Letzteres sowie das ADZ haben vor Gericht in erster Instanz bereits verloren. Die Gefahr bei dieser Art von Verfahren liegt darin, dass hier die juristische Möglichkeit besteht, eine NGO zur Registrierung als Agent zu zwingen (bei den anderen Verfahren drohen Strafzahlungen und im Extremfall die zeitweilige oder völlige Aussetzung der Tätigkeit).

Bisher sind indes längst nicht alle Verfahren abgeschlossen. Eine Übersicht über bisherige und künftige Gerichtstermine sind ebenfalls im Internet erfasst. Einige wichtige Verfahren - betroffen waren u. a. die Assoziation „Golos“ (deren Tätigkeit ja bereits ausgesetzt wurde) und die Stiftung „Gesellschaftliches Verdikt“ – wurden vertagt, um die Entscheidungen des russischen Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzuwarten, die 2014 anstehen. Im Februar 2013 hatten bereits mehrere NGOs beim EGMR gegen das "Agentengesetz" geklagt, andere klagten später beim Verfassungsgericht, unterstützt vom Menschenrechtsbeauftragten Vladimir Lukin und dem Vorsitzenden des Menschenrechtsrats Michail Fedotov.

Auf ausländische Unterstützung können und wollen die meisten NGOs nicht verzichten, manche betonen vielmehr ausdrücklich, ein Recht darauf zu haben. Die Möglichkeiten für NGOs, in Russland selbst staatliche Fördergelder zu bekommen, wurden im letzten Jahr ausgeweitet. Der Schwerpunkt liegt hierbei zwar bei Organisationen, die im sozialen Bereich tätig sind, profitieren konnten jedoch auch Menschenrechtsorganisationen und andere NGOs. So erhält das Menschenrechtszentrum MEMORIAL einen Zuschuss für die Erstellung seines vierteljährlichen Kaukasus-Berichts sowie für das Projekt „Migration und Recht“, das NIPZ (Zentrum für Information und Aufklärung) von Memorial in Moskau bekommt Unterstützung für ein historisches Projekt. Allerdings werden diese punktuellen Projektförderungen es gerade größeren Organisationen nicht ermöglichen, auf ausländische Sponsoren zu verzichten.

Grigorij Ochotin, einer der Mitarbeiter von Closed Society, führt die Tatsache, dass die Kampagne gegen die NGOs inzwischen nachgelassen hat, nicht zuletzt auf ihre massive Gegenwehr zurück sowie darauf, dass es ihnen gelungen ist, breite Unterstützung zu mobilisieren. Indes hält er die Situation nach wie vor für prekär, obwohl die Kampagne gegen sie nicht zuletzt auf Grund ihrer massiven Gegenwehr und Mobilisierung nachgelassen hat: „Das Gesetz wurde nicht abgeschafft, alle Instrumente für die Zerstörung des dritten Sektors existieren nach wie vor, und sie können jederzeit angewandt werden.

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