Wird die Staatsmacht die Kraft finden, das Verhältnis zur Zivilgesellschaft neu zu gestalten?
Vor
zehn Jahren nahm eine Spezialeinheit am Novosibirsker Flughafen den
Chef des Erdölkonzerns „Jukos“, Michail Chodorkovskij, fest. Er war
gerade auf dem Weg nach Irkutsk, wo er auf dem Seminar „Business. Macht.
Gesellschaft“ sprechen wollte. Zwei Tage später sollte er an einer
Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen in Moskau teilnehmen.
Dies hätte eine neue Etappe im Verhältnis der Wirtschaft zur
Zivilgesellschaft einleiten können.
Statt dessen jedoch ließ das Moskauer Basmannyj-Bezirksgericht
Chodorkovskij verhaften. Der Ausdruck „Rechtsprechung à la Basmannyj“
ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden.
Zuvor
waren bereits die „Jukos“-Mitarbeiter Alexej Pitschugin und Platon
Lebedev auf Grund konstruierter Beschuldigungen inhaftiert worden.
Chodorkovskijs
Verhaftung läutete eine neue Phase in Russlands politischem Regime ein,
und das nicht nur, weil danach noch viele weitere Verhaftungen von
„Jukos“-Mitarbeitern folgten. Der Kampf gegen „Jukos“ und generell gegen
liberal eingestellte, unabhängige Akteure der Wirtschaft wurde zur
Ideologie des Regimes.
Die
Wirtschaft verlor ihre politische Selbstständigkeit. Die Unterstützung
einer von der Regierung unabhängigen Zivilgesellschaft durch russische
Unternehmen kam praktisch zum Erliegen. Es kam zu einer Welle
betrügerischer Verfahren, das Beispiel von „Jukos“ wiederholte sich
tausendfach. Mit fabrizierten Beschuldigungen wurden Unternehmer um ihr
Vermögen gebracht, von ihnen gegründete Firmen beschlagnahmt, und viele
kamen hinter Gitter.
Die
beiden Chodorkovskij-Prozesse haben das Gerichtswesen korrumpiert. In
vielen Punkten ist es heute sogar schlechter als seinerzeit die gelenkte
sowjetische Justiz. In Folge der Konfiszierung von Eigentum auf Grund
gefälschter Beschuldigungen entstand eine Schicht von „Unternehmern mit
Schulterstücken“. Spionage-Prozesse überzogen das Land, deren Opfer
bekannte Wissenschaftler wurden, und der internationale
wissenschaftliche Kontakt nahm erheblichen Schaden.
In
den vergangenen Jahren haben die „Geheimdienst-Oligarchie“, die
Verschmelzung von Wirtschaft und (Macht-)Bürokratie zu einer
präzedenzlosen sozialen Desintegration, einer in alle Bereiche
eindringenden Korruption, einem Kollaps der Rechtsprechung als
Institution, zu Kapitalflucht, massenhafter Emigration von Vertretern
der „Mittelklasse“ und zu ökonomischer Stagnation geführt.
Die
Zahl der politischen Gefangenen nimmt kontinuierlich zu. Die Verfahren
gegen „Pussy Riot“, der „Bolotnaja-Prozess“ gegen Teilnehmer der
Kundgebung am 6. Mai 2012, die Spionage-Prozesse gegen Wissenschaftler,
das Verfahren gegen die Ökologen im Gebiet Krasnodar sowie gegen die 30
Greenpeace-Aktivisten der „Arctic Sunrise“ zeigen, dass die Machthaber
elementare Rechtsnormen auf eklatante Weise missachten.
Das
Land befindet sich ganz offensichtlich in einer Sackgasse. In der
Gesellschaft wächst die Aggressivität, die jüngsten ethnischen
Ausschreitungen sind hier nur erste Symptome.
Werden
die Machthaber die Kraft finden, das Verhältnis zur Zivilgesellschaft
neu zu gestalten? Der beste Weg aus der Sackgasse wäre eine breit
angelegte Amnestie. Diese müsste unbedingt alle Personen einbeziehen,
gegen die politische oder betrügerische Wirtschaftsverfahren angestrengt
wurden, sowie alle Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer der
Strafjustiz waren. Dazu gehören zweifellos alle, die im Zusammenhang
mit „Jukos“ verfolgt wurden, die Greenpeace-Aktivisten und die
„Häftlinge des 6. Mai“.
Eine
solche umfassende Amnestie wäre die letzte Chance, die russische
Gesellschaft zu befrieden und einen realen Dialog zwischen ihr und den
Machthabern einzuleiten.
Ljudmila Alexejeva, Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe
Valerij Borschtschev, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe
Svetlana Gannuschkina, Vorsitzende von „Grazhdanskoe sodejstvie“
Sergej Kovalev, Vorsitzender der Russischen Gesellschaft Memorial
Orleg Orlov, Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial
Lev Ponomarev, Direktor der Russischen Bewegung „Für Menschenrechte“
Alexander Tscherkasov, Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial
Ernst Tschernyj, Sekretär des Komitees zum Schutz von Wissenschaftlern
Vater Gleb Jakunin, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe
Quelle: http://www.memo.ru/d/175765.html
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