Freitag, 25. Oktober 2013

Aufruf zu einer Amnestie. Erklärung aus Anlass des zehnten Jahrestages der Verhaftung von Michail Chodorkovskij

Wird die Staatsmacht die Kraft finden, das Verhältnis zur Zivilgesellschaft neu zu gestalten?


Vor zehn Jahren nahm eine Spezialeinheit am Novosibirsker Flughafen den Chef des Erdölkonzerns „Jukos“, Michail Chodorkovskij, fest. Er war gerade auf dem Weg nach Irkutsk, wo er auf dem Seminar „Business. Macht. Gesellschaft“ sprechen wollte. Zwei Tage später sollte er an einer Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen in Moskau teilnehmen. Dies hätte eine neue Etappe im Verhältnis der Wirtschaft zur Zivilgesellschaft einleiten können.
Statt dessen jedoch ließ das Moskauer Basmannyj-Bezirksgericht Chodorkovskij verhaften. Der Ausdruck „Rechtsprechung à la Basmannyj“ ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden.
Zuvor waren bereits die „Jukos“-Mitarbeiter Alexej Pitschugin und Platon Lebedev auf Grund konstruierter Beschuldigungen inhaftiert worden.

Chodorkovskijs Verhaftung läutete eine neue Phase in Russlands politischem Regime ein, und das nicht nur, weil danach noch viele weitere Verhaftungen von „Jukos“-Mitarbeitern folgten. Der Kampf gegen „Jukos“ und generell gegen liberal eingestellte, unabhängige Akteure der Wirtschaft wurde zur Ideologie des Regimes.

Die Wirtschaft verlor ihre politische Selbstständigkeit. Die Unterstützung einer von der Regierung unabhängigen Zivilgesellschaft durch russische Unternehmen kam praktisch zum Erliegen. Es kam zu einer Welle betrügerischer Verfahren, das Beispiel von „Jukos“ wiederholte sich tausendfach. Mit fabrizierten Beschuldigungen wurden Unternehmer um ihr Vermögen gebracht, von ihnen gegründete Firmen beschlagnahmt, und viele kamen hinter Gitter.

Die beiden Chodorkovskij-Prozesse haben das Gerichtswesen korrumpiert. In vielen Punkten ist es heute sogar schlechter als seinerzeit die gelenkte sowjetische Justiz. In Folge der Konfiszierung von Eigentum auf Grund gefälschter Beschuldigungen entstand eine Schicht von „Unternehmern mit Schulterstücken“. Spionage-Prozesse überzogen das Land, deren Opfer bekannte Wissenschaftler wurden, und der internationale wissenschaftliche Kontakt nahm erheblichen Schaden.

In den vergangenen Jahren haben die „Geheimdienst-Oligarchie“, die Verschmelzung von Wirtschaft und (Macht-)Bürokratie zu einer präzedenzlosen sozialen Desintegration, einer in alle Bereiche eindringenden Korruption, einem Kollaps der Rechtsprechung als Institution, zu Kapitalflucht, massenhafter Emigration von Vertretern der „Mittelklasse“ und zu ökonomischer Stagnation geführt.

Die Zahl der politischen Gefangenen nimmt kontinuierlich zu. Die Verfahren gegen „Pussy Riot“, der „Bolotnaja-Prozess“ gegen Teilnehmer der Kundgebung am 6. Mai 2012, die Spionage-Prozesse gegen Wissenschaftler, das Verfahren gegen die Ökologen im Gebiet Krasnodar sowie gegen die 30 Greenpeace-Aktivisten der „Arctic Sunrise“ zeigen, dass die Machthaber elementare Rechtsnormen auf eklatante Weise missachten.

Das Land befindet sich ganz offensichtlich in einer Sackgasse. In der Gesellschaft wächst die Aggressivität, die jüngsten ethnischen Ausschreitungen sind hier nur erste Symptome.

Werden die Machthaber die Kraft finden, das Verhältnis zur Zivilgesellschaft neu zu gestalten? Der beste Weg  aus der Sackgasse wäre eine breit angelegte Amnestie. Diese müsste unbedingt alle Personen einbeziehen, gegen die politische oder betrügerische Wirtschaftsverfahren angestrengt wurden, sowie alle Personen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer der Strafjustiz waren. Dazu gehören zweifellos alle, die im Zusammenhang mit „Jukos“ verfolgt wurden, die Greenpeace-Aktivisten und die „Häftlinge des 6. Mai“.

Eine solche umfassende Amnestie wäre die letzte Chance, die russische Gesellschaft zu befrieden und einen realen Dialog zwischen ihr und den Machthabern einzuleiten.



Ljudmila Alexejeva, Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe
Valerij Borschtschev, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe
Svetlana Gannuschkina, Vorsitzende von „Grazhdanskoe sodejstvie“
Sergej Kovalev, Vorsitzender der Russischen Gesellschaft Memorial
Orleg Orlov, Mitglied des Menschenrechtszentrums Memorial
Lev Ponomarev, Direktor der Russischen Bewegung „Für Menschenrechte“
Alexander Tscherkasov, Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial
Ernst Tschernyj, Sekretär des Komitees zum Schutz von Wissenschaftlern
Vater Gleb Jakunin, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe

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