Am 16. Januar wurden gegen Vladimir Ionov und Mark Galperin und am 30. Januar gegen Ildar Dadin
die ersten Strafverfahren wegen des neuen § 212.1 StGB RF (mehrfacher
Verstoß gegen die Vorschriften zur Organisation oder Durchführung von
Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen)
eingeleitet. Jedem von ihnen werden vier Verstöße gegen die Vorschriften
zur Organisation oder Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen
innerhalb von 180 Tagen zur Last gelegt.
Gegen
Ionov und Galperin (Galperin verbüßt bis zum 14.Februar noch eine
Ordnungshaft von dreißig Tagen) wurde als Maßnahme eine Einschränkung
der Freizügigkeit verhängt, die verbietet, dass sie Moskau verlassen;
gegen Dadin wurde Hausarrest verfügt.
Wir
gehen davon aus, dass die Verfolgung der Aktivisten rechtswidrig ist
und aus politischen Motiven erfolgt - schon allein deswegen, weil sie
sich auf § 212.1 StGB RF stützt.
Dieser
Paragraph zielt ebenso wie § 20.2 Punkt 8 des Verwaltungsstrafrechts
der RF (der den wiederholten Verstoß gegen die Vorschriften zur
Organisation oder Durchführung von Versammlungen, Kundgebungen,
Demonstrationen, Märschen oder Mahnwachen unter Strafe stellt) darauf
ab, die Machtstellung der herrschenden Strukturen zu festigen und zu
erhalten. Dies geschieht durch eine Einschränkung der
Versammlungsfreiheit; öffentliche Aktivitäten von Personen, die die
Versammlungsfreiheit wahrnehmen, um die Machtorgane zu kritisieren,
werden mit Zwangsmitteln unterbunden.
Der rechtswidrige Charakter des § 212. 1 StGB RF ist dadurch bedingt, dass er:
- die wiederholte Bestrafung für ein und denselben Rechtsverstoß vorsieht;
-
das Vorliegen eines Straftatbestandes davon abhängig macht, dass die
Person ordnungsrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde und sie damit
der Garantien beraubt, die in der Strafprozessordnung festgeschrieben
sind;
-
das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz verletzt, indem er eine
wiederholte Ordnungswidrigkeit, die die Persönlichkeit des Delinquenten
charakterisiert, zum einzigen qualifizierenden Merkmal für die Begehung
einer Straftat macht;
-
eine Verantwortung festschreibt, die offensichtlich nicht dem
anzunehmenden Gefährlichkeitsgrad für die Gesellschaft entspricht;
-
entgegen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Russischen
Föderation und der Haltung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte ohne hinreichenden Grund die Freiheit friedlicher
Versammlungen einschränkt (siehe auch die Erklärung des
Menschenrechtszentrums MEMORIAL mit dem Titel „Die neue Gesetzgebung vernichtet die Versammlungsfreiheit in Russland“).
Die
Rechtswidrigkeit und den politischen Charakter der Strafverfolgung von
Ionov, Galperin und Dadin bestätigen auch die tatsächlichen Umstände der
Fälle: die zahlreichen Verletzungen und Fälschungen im Rahmen der
Ordnungswidrigkeitsverfahren; die Willkür der ordnungsrechtlichen
Verfolgung – festgenommen wurden Oppositionsaktivisten, nicht aber die
Regierungsanhänger, die ihre Aktionen störten; die prozessualen Verstöße
bei der Einleitung der Strafverfahren.
Aufgrund
dieser Umstände betrachten wir die Verfolgung von Ionov, Galperin und
Dadin als rechtswidrig und politisch motiviert und Ildar Dadin, der
unter Hausarrest steht, als politischen Gefangenen.
Die Strafverfolgung von Ionov, Galperin und Dadin muss umgehend und bedingungslos eingestellt werden.
Die
Anerkennung als rechtswidrig Verfolgter aus politischen Motiven oder
als politischer Gefangener bedeutet weder das Einverständnis des
Menschenrechtszentums MEMORIAL mit den Ansichten und Aussagen der
anerkannten Personen noch eine Befürwortung ihrer Äußerungen und
Handlungen.
Übersetzung: Martina Steis
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