„Immer wieder das Unmögliche versuchen, damit das Mögliche entsteht.“ Der Gedanke des deutschen Schriftstellers und Dichters Hermann Hesse könnte auf die Fahnen der Menschenrechtsbewegung in Russland geschrieben sein.
Dieser Grundsatz gilt auch für MEMORIAL, die 1988 als eine der ersten regierungsunabhängigen Menschenrechtsgesellschaften in der früheren Sowjetunion gegründet wurde. Der jahrzehntelange Einsatz für Menschenrechte und historische Aufklärungsarbeit macht MEMORIAL zum Symbol der Zivilgesellschaft, zum Synonym für ein neues staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein.
Und dennoch geht die Entwicklung Russlands keineswegs in die Richtung, die MEMORIAL sich wünscht: Rechtliche Mechanismen, die in den 90er Jahren auch von MEMORIAL mit entwickelt wurden, greifen nicht. Obwohl Präsident Medvedev Reformen anmahnt, die Rückständigkeit des Landes kritisiert und Russland in jeder Hinsicht modernisieren will, existieren die gesellschaftlichen und rechtlichen Fortschritte, für die MEMORIAL sich einsetzt, noch nicht.
Für die fehlenden Menschenrechts- und Modernisierungsstandards gibt es unzählige Fälle, die von MEMORIAL aufgegriffen und verfolgt werden.
Dazu gehört auch die Verhaftung und Verurteilung von Michail Chodorkowski. Schon 2003 erklärte MEMORIAL, dass „unter formalrechtlichen Vorwänden massiver politischer Druck ausgeübt werde“ und forderte die „Herausbildung eines innergesellschaftlichen Dialogs, der von unabhängigen Bürgern, nichtstaatlichen Organisationen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und politischen Parteien getragen werde“.
Was ist aus dieser Forderung geworden? Wurde die Kritik gehört? MEMORIAL kann nur feststellen, dass der Fall Chodorkowski heute zur Justizfarce gerät. „Sechs Monate und kein Hinweis zur Sache“, kommentierte Chodorkowski selbst das zweite Verfahren gegen ihn. Wiederum sieht es so aus, als solle vor allem ein politischer Gegner auf Kosten des Rechtsstaats ausgeschaltet werden.
Auch der Fall von Natalja Estemirova, die am 15. Juli 2009 in Grosny entführt und erschossen wurde, lässt an der Rechtsstaatlichkeit Russlands zweifeln. Präsident Medvedev bezeichnete die Tat zwar als Provokation und sagte „rasche und umfassende Aufklärung“ zu, aber bis heute ist in dieser Hinsicht nichts geschehen. Die Mörder von Estemirova sind noch immer in Freiheit.
Ganz aktuell ist der Protest von MEMORIAL gegen die von der Stadt Moskau geplante Stalin-Plakataktion anläßlich des 65. Jahrestags des „Großen Siegs“. Für MEMORIAL ist dies ein weiterer Schritt auf dem Weg einer Rehabilitierung des Stalinismus, der in eklatantem Widerspruch zu dem steht, „was die in diesem Krieg Gefallenen für das Vaterland getan haben“. Sollten die Stalin-Plakate tatsächlich in den Straßen Moskaus aufgehängt werden, wird MEMORIAL alles tun, um an Ort und Stelle Plakate und Poster anzubringen, die die Verbrechen Stalins und dessen wahren Platz in der Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs aufzeigen.
All diese Beispiele werfen die Frage auf, wie es wirklich um die Reformfähigkeit in Russland steht? Kann die Bevölkerung für den Bruch mit einer auf die Staatsmacht fixierten Gesellschaft, für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mobilisiert werden? Dazu beizutragen, ist nur einer der Arbeitsschwerpunkte von MEMORIAL. Die Aufarbeitung totalitärer Vergangenheit und die Wiederherstellung der historischen Wahrheit gehören nach wie vor dazu, ebenso die materielle Hilfe für die Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft.
MEMORIAL Deutschland setzt genau hier an. 1993 in Berlin als Förderverein für den St. Petersburger MEMORIAL-Verband gegründet, ging es zunächst darum, Hilfe und Unterstützung für die Überlebenden des sowjetischen Lagersystems bereitzustellen. Diese Hilfe leisten wir auch heute noch.
Darüber hinaus aber hat sich das Aufgabenspektrum des im Jahr 2000 in die internationale MEMORIAL-Gesellschaft aufgenommenen deutschen Vereins erweitert. MEMORIAL Deutschland ist zur Plattform geworden, die ihre russischen Partner durch Öffentlichkeitsarbeit, Beteiligung an Projekten und Spendenaktionen unterstützt. Unsere gemeinsamen Ziele sind, gerade angesichts der jüngsten Bestrebungen zur Rehabilitierung des Stalinismus, die Überwindung totalitärer Denkweisen und die Stärkung der Rechte des Einzelnen in Politik und Gesellschaft. Denn erst das aktive gesellschaftliche Bewusstsein ermöglicht auch zivilgesellschaftliches Handeln. Und ohne eine lebendige, eigenständige Zivilgesellschaft, ohne den Wandel von unten, wird das bestehende russische System, das „Imitat“ einer Demokratie, sich nicht verändern.
Ulrike Mattfeldt
Mitglied des Vorstands MEMORIAL Deutschland e.V.
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